Wer schon viele grosse, spannende Reisen in ferne Länder erlebt hat, immer noch neugierig ist, inzwischen jedoch bereit zu entdecken, was «vor der Haustür» Interessantes zu finden ist, dem sei eine Reise in den Jura empfohlen.
Die Jurahöhen als «nahes» Reiseziel zu bezeichnen, ist eigentlich eine gewagte Aussage. Immerhin zieht sich der Gebirgszug, überwiegend aus Kalkstein bestehend, in der Schweiz über mehr als 300 Kilometer hin. Wer gern wandert, interessiert sich vielleicht für den Jurahöhenweg. Dieser Teil des Europäischen Fernwanderwegs E4 beginnt in Dielsdorf ZH und führt bis nach Borex GE mit wunderbaren Aussichtspunkten.
Vor einigen Jahrzehnten lebte ich am Fusse der Lägern, dem ersten langgezogenen Berg, den man von Dielsdorf aus unter die Füsse nimmt. – Die Lägern ist Flugreisenden wohl bekannt, man sieht sie bei vielen An- bzw. Abflügen. Abgesehen von der Aussicht ist dieser Berg nicht sehr spektakulär. Wer aber seltene Blumen und Pflanzen entdecken möchte, kann an der Lägern fündig werden.
Meine Nachbarn hatten sich ein anderes Projekt vorgenommen: Sie absolvierten mit ihren Langlaufskis jeden Winter ein weiteres Stück des Jurahöhenwegs. – Das war vor ca. 40 Jahren. Ich bin nicht sicher, wie schneesicher der Skiwanderweg noch ist.
Chaux-d’Abel liegt an der Winterwanderroute über den Jura.
Die Schönheit von Wald, Wiesen und Kalkfelsen
«Kleine Schönheiten» nenne ich die verschiedenen Wildblumen, die im Laufe des Jahres in Wald und Wiese wachsen. Im Frühling erscheinen zuerst die weissen Sprenkel der wilden Krokusse, gleich gefolgt von den weithin bekannten gelben Narzissen. Die zierlichen blauen Leberblümchen, von denen man wissen muss, wo sie stehen, sind dann schon fast verblüht.
Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale)
Im Juni / Juli entdeckt das geübte Auge den Türkenbund, eines der stattlichsten in Europa heimischen Liliengewächse. Schon im August, wenn noch niemand an den Herbst denken möchte, breiten sich die Herbstzeitlosen aus.
Kantige Kalksteinbrocken und charakteristische mächtige Juratannen wechseln ab mit Buchen- und Eichengehölzen, dazwischen Wiesen und Landwirtschaft.
Einmal sah ich an einem Feld auf etwas über 1000m Höhe ein Schild «höchst gelegener Acker» und fragte mich, ob sich diese beeindruckende Angabe auf den Kanton Bern, den Jura oder nur auf diese Gemeinde bezog. – Im folgenden Jahr wuchs dort nur Gras.
Blick aus dem Frühlingswald in die Kalkfelsen, Waadtländer Jura
Zahlreiche, knorrige Mehlbeerbäume stehen neben den Wegen und Viehweiden. Da ich nicht in dieser Gegend aufgewachsen bin, musste ich erst herausfinden, dass aus den roten Beeren früher Konfitüre gemacht wurde und dass die getrockneten und gemahlenen Mehlbeeren als Mehlersatz genutzt und zum Brotbacken verwendet wurden. – Gerade im Jura waren die Menschen vor 100 Jahren ganz und gar nicht wohlhabend. Auch Haselsträucher findet man so schön gruppiert, dass sie wohl vor langer Zeit zur Nutzung der Nüsse und Ruten gepflanzt worden waren.
Wald in der Gegend von Les prés de Macolin
Höhenzüge und tiefe Schluchten
Zwischen den langgezogenen Bergen – 1679 Meter ist der höchste (Mont Tendre) – befinden sich tief eingeschnittene enge Täler. Wie «Falten» sehen sie aus, deshalb heisst ein grosser Teil des Gebirges «Faltenjura», andere Teile bezeichnen die Geologen als «Tafeljura». Manche dieser Schluchten dienen einem Gewässer, andere sind trocken. – Der Jura ist in weiten Teilen relativ trocken, weil das Wasser im porösen Kalkstein verschwindet. – In St. Imier erzählte mir ein Einheimischer, dass sie als Jugendliche solch steile Schluchten, wie den Combe Grède vom Chasseral aus, in «halsbrecherischer Abfahrt» mit Skis hinuntergerast seien. – Er konnte es selbst kaum noch glauben.
Nicht so steil und gefährlich, aber bei zu viel Nässe nicht begehbar: die Twannbachschlucht
Besonders malerisch sind die im Kanton Jura gelegenen Freiberge (Franches-Montagnes) rund um Saignelégier. Hier auf ca. 1’000 Meter Höhe ist die Landschaft durch ausgedehnte Weiden und grosse, freistehende Fichten geprägt. Das kleine Städtchen ist bekannt für seine Pferde. Das Fest am 2. Wochenende im August, der Marché-Concours national de chevaux, ist ein Anziehungspunkt für alle Pferdeliebhaber und für die Freunde und Freundinnen jurassischer Fröhlichkeit.
Spektakulär ist der Creux du Van im Neuenburger Jura, ein geologisches Kleinod, das sich in den Kalkfelsen gebildet hat. Man erreicht es zuerst mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Neuenburg aus und dann nach einer kleinen Wanderung.
Kultur, Musik und Tête de Moine
Überall im Jura gibt viel zu sehen. Von Saignelégier aus kann man gut zur historischen Abtei Bellelay fahren, ein wunderschön restauriertes Kloster der Prämonstratenser. Robert Walser verbrachte einige Zeit in der bis heute bestehenden Psychiatrischen Klinik von Bellelay. In der Kirche finden im Sommer regelmässig Konzerte statt, und in der Nähe gibt es den berühmten Käse Tête de Moine. Hier wird er hergestellt.
Ehemaliges Kloster (Abbatiale) in Bellelay. (Foto: Roland Zumbühl / wikimedia.org)
Wer klassische, besonders alte Musik liebt, sollte auch schauen, ob nicht in St.Ursanne in der historischen Stiftskirche ein Konzert stattfindet. Denn ein Ausflug in tiefere Gegenden lohnt sich sehr. Das hübsche Städtchen liegt am Doubs, der dort von Süden nach Norden fliesst und wenig später seine Richtung total ändert.
La-Chaux-de-Fonds – die «Uhrenhauptstadt»
Ein Brand, der 1794 die kleine Stadt der Manufakturen auf ca. 1’000 Meter fast gänzlich zerstörte, hatte unabsehbare Folgen. Dem Zeitgeist und dem französischen Einfluss folgend wurde der Wiederaufbau systematisch geplant, und so entstand eine Stadt mit parallel und rechtwinklig verlaufenden, breiten Strassen. Damit wurden künftige Brände verhütet, der Hygiene besser Genüge getan, und es gelangte viel Licht durch die grossen Fenster. Denn die Herstellung von Uhren war noch Handarbeit, für die Arbeit in den Ateliers war Helligkeit unabdingbar. Schon im alten Städtchen waren die Uhrmacher vorherrschend gewesen.
Der stattliche Sitz einer Uhrenmanufaktur in La-Chaux-de-Fonds. Beachten Sie die grossen Fenster.
Mit dem Aufblühen der Uhrenindustrie wuchs die Stadt und die Zahl der Beschäftigten, die nicht nur aus der näheren Umgebung kamen. Um 1880 waren in La-Chaux-de-Fonds 30% der Einwohner aus der deutschen Schweiz zugewandert. Sie waren so zahlreich, dass sie sich sogar eine Kirche, den Temple Allemand, bauen konnten, heute von einer Kooperative für Theater und Kunst genutzt. Damals entstanden viele sehenswerte Jugendstilbauten.
Die grossen Söhne der Stadt sind in die Welt hinausgezogen: Blaise Cendrars, Schriftsteller und Abenteurer, Louis Chevrolet, Autorennfahrer und Konstrukteur, und natürlich Charles-Edouard Jeanneret, besser bekannt als Le Corbusier, der im 20. Jahrhundert Architektur und Stadtplanung entscheidend geprägt hat.
Schmiedeeisen schmückt den Jugendstil-Musikpavillon im weitläufigen Park.
Das ist nur ein kleiner Teil der Sehenswürdigkeiten im Jura. Als Titel habe ich eine Zeile aus dem Gedicht «Erinnerung» von Johann Wolfgang Goethe gewählt:
Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen:
Denn das Glück ist immer da.
Wenn Sie sich mit Bildern zufrieden geben: Die Ausstellung «Jurabilder / Imaginaires du Jura» im Kunstmuseum Solothurn ist noch bis 4. Mai 2025 anzuschauen.
Titelbild: Kalkfelsen bei Baulmes VD (Wenn nicht anders vermerkt: alle Fotos mp)