Letzte Woche erlebte ich einen Frühlingstag, dessen Herrlichkeit ich mit vier Augen betrachten durfte. Der Konjunktiv, der mich mit seinem «Hätte» und «Wäre», mit «Eigentlich sollte es möglich sein» und ähnlichen Wendungen immer wieder beschäftigt, war wie weggeputzt. Ich sass am See. Der Magnolienbaum blühte in schönster Pracht. Schön ist, dass Bäume nicht fragen, ob sie blühen sollten. Sie blühen. So ein Tag war mir geschenkt. Der Wind, der über den See zog, kräuselte das Wasser. Die Hänge an der anderen Seeseite strahlten in fettem Grün und die Berge, noch in Weiss, zeigten ihren markanten Charakter. Gegen Nachmittag blähte der Wind die Segel der Schiffe auf und liess sie an Fahrt gewinnen.
Sie sagte: «Es ist einfach schön hier!»
«Ein Allerweltswort! Präziser in bildlichere Worte übersetzt, wie es Dichter tun, lehren sie den Menschen sehen.»
«Adjektive sind heikel und verschleiern oft, was sie sagen möchten. Darum bevorzugen Dichter Verben.»
Ich stimmte zu: «Wir sehen das Gleiche und wir denken ähnlich. Wir sehen mit vier Augen.» Es entstand ein romantischer Moment, ohne jeden Konjunktiv, der die Welt gerade so verunsichert. «Die Wiesen grünen satt», sagte sie.
«Endlich der Indikativ», bemerkte ich. Ihr fiel die erste Strophe von Conrad Ferdinand Meyers Gedicht «Zwei Segel» ein und sie rezitierte: «Zwei Segel erhellend / Die tiefblaue Bucht /Zwei Segel sich schwellend / Zu ruhiger Flucht.»
Sie stoppte: «Ich habe die weiteren Strophen vergessen.»
«Kein Problem, das iPhone weiss Rat»:
Und tatsächlich:
«Wie eins in den Winden / Sich wölbt und bewegt, / Wird auch das Empfinden / des andern erregt. // Begehrt eins zu hasten, / Das andere geht schnell, / Verlangt eines zu rasten, / Ruht auch sein Gestell.»
Diese Verse passten zu meinem Wort, dass ich, mit ihr unterwegs, die Welt mit vier Augen sehe und glaube, dass mir Dichter ähnliche Erlebnisse verschaffen.
Ihre Frage lautet: «Wozu Gedichte?» Ich antworte: «Damit ich dem Konjunktiv entfliehen kann.»
Usama Al Shahmani, der aus 64 Bänden des Limmat-Verlags Gedichte ausgewählt hat, schreibt: «Ein Gedicht ist nicht nur dazu da, um Fliegen zu vertreiben, sondern um die Weite der Welt zu sehen. Um nicht aufzuhören, den inneren Sprachraum zu erweitern.» Damit das Gefühl der inneren Freiheit sich bilde. Damit eine Verbindung zwischen der Poesie und der Kindheit entstehe. Kinder leben, wenn sie spielen, im Indikativ.
«Wozu Gedichte» fragt Erika Burkhart:
Ich suche das Wort
Das mich fände.
Jedes Wort
Ist ein Mass für Distanzen,
die ich mit Worten
nicht überwinde.
Wortlos lerne ich lauschen.
Lauschen ist ein Gespräch mit dem Schweigen.
Gedichte sind Grade des Schweigens.
Usama Al Shahmani schreibt: «Erika Burkarts Gedichte erfüllen für mich genau das, was ich (damals) über die Notwendigkeit der Poesie schrieb: Sie lüften die Sprache…»
Ich füge bei, so wie wir im freundschaftlichen Gespräch die Welt mit unseren Augen bereichern, so schenken uns Gedichte des Dichters und der Dichterin einen poetischen Blick auf die sich wechselnden Dinge, damit wir Staunen und Schweigen lernen im Lärm der Zeit.
*Usama Al Shahmani: Ein Seidenfaden zu den Träumen. Limmat-Verlag 2025