Der Zentrumsort Trun in der Surselva feiert in diesem Jahr den 100. Geburtstag von Matias Spescha (1925-2008) einem seiner bekanntesten Künstler. Der Besuch der Kunstausstellung lässt sich mit einem Gang durchs Land verbinden.
Der Mai ist die schönste Jahreszeit, selbst wenn das Wetter nicht immer mitspielt. Eine Reise ins Bündner Oberland kann man mit öffentlichem Verkehr oder auch mit dem Auto unternehmen. Unser Ziel ist der Spazi d’Art Matias Spescha in der ehemaligen Tuchfabrik Truns AG, wo der begabte junge Mann nach der Schule eine Ausbildung als Schneider absolvierte und dabei lernte, den Respekt vor grossen Stücken zu verlieren.
Matias Spescha: Ordnung in sieben Teilen (1990)
Der Verein Trun Cultura richtet in der Fabrikhalle – ein idealer Ort für Speschas grosse Bildtafeln und Skulpturen – eine Hommage mit drei Begegnungen ein, nämlich mit Not Vital (6.9.-16.11.2025), Corsin Fontana (14.6.-24.8.2025) und Gaspare O. Melcher, noch bis zum 25. Mai: drei Bündner Künstler, deren Werkauswahl im Kontext mit Arbeiten von Spescha aus dem Nachlass gezeigt werden.
Nächster Halt Trun. Foto: Maksym Koslenko
Da die Ausstellung jeweils von Freitag bis Montag erst am Nachmittag geöffnet ist, empfiehlt sich ein Zwischenhalt mit Wanderung oder ein Abstecher mit einer Bergbahn. In höheren Lagen macht der Schnee tausenden von Krokussen und Soldanellen Platz, an Südhängen zeigen sich Pelzanemone und Enzian.
Blick von der Aussichtsplattform il spir. Foto: Adrian Michael
Immer einen Besuch wert ist die Ruinaulta, die Rheinschlucht. Der Schweizer Grand Cañyon bietet verschieden schwierige, auch kurze Wanderungen an und mehrere Aussichtsplattformen ermöglichen einen spektakulären Blick auf das Wasser, das zwischen Castrisch und Reichenau durch Felstürme und in Schleifen seinen Weg durch den prähistorischen Bergsturz findet.
Grosse Räume sind das richtige Umfeld für grosse Kunst.
Diese Urlandschaft ist eine passende Einstimmung auf den Kunstraum in der Trunser Tuchfabrik: Gewaltige Natur, entstanden durch jahrtausendelange Erosion nach dem Felssturz, evoziert Gefühle, die ihr Pendant bei der radikalen Kunst im Spazi d’Art Matias Spescha findet, bei der Begegnung zweier Künstlerpersönlichkeiten auf der Suche nach dem Absoluten.
Links Speschas «Alphabet poétique» 1979; rechts zwei Leinwände aus Melchers Serie «Roswell Symbols» 1996 bis 2006
Spescha ist fasziniert, dass sich mit den wenigen Zeichen des Alphabets die Welt erklären lässt. Er hat das Formenvokabular der 24 Buchstaben (das W fehlt) reduziert auf wenige Linien, Bogen, Flächen. Im Kunstraum wurde eine eingerichtet, wo das Publikum mit Speschas Zeichen wie aus einem Setzkasten Wörter schreiben kann.
Drei Bündner Künstler zwischen Spescha und Melcher
Spescha, der seine enge Heimat früh verliess und sich in Frankreich ansiedelte, geht es um die Reduktion der Formensprache auf das Wesentliche bei seiner Suche nach dem Wesen der Kunst. Im Helldunkel wird die Hierarchie von Farbe und Untergrund aufgehoben zugunsten einer radikalen Aesthetik des Ausdrucks. Das Tafelbild Ordnung in sieben Teilen (1990) bringt sieben Teilflächen zu einem Ganzen. Das im ersten Augenblick geometrisch präzise wirkende Helldunkel wird mit dem weichen Pinselstrich gleichsam lebendig.
Gaspare O. Melcher: Dekodierung von Speschas Alphabet poétique nach geometrischen Grundprinzipien
Wie Gaspare O. Melcher auf das Alphabète poétique von Spescha reagiert, ist in einer Studie neben Speschas Gemälde zu erfahren, gleichzeitig im Blick sind Malereien mit Ideogrammen, welche direkt ins Werk des jüngeren führen.
Auch Melchers Arbeiten sind Umsetzungen eines Zeichensystems, mit dem er sich seit seinem Frühwerk beschäftigt. Seine Forschungen führen zum Werk, die Aesthetik ergibt sich. Vorstellbar bleibt die asketische Arbeitsweise, wie er tagelang in mönchischer Konzentration Ideogramm neben Ideogramm malt, radiert oder stempelt und collagiert.
Gaspare O. Melcher: Hommage an M. Spescha, 2013
In der Ausstellung zeigt er unter anderem Teile seiner Serie Hommagen an bewunderte und befreundete Künstler aus den Jahren 2011 bis 2014, darunter jene für Matias Spescha, die er aus einer Skizze des Älteren für eine Skulptur entwickelt hat. Das Material auch dieser Collagen sind die in kleine Fetzen zerrissenen Hefte der italienischen Comicserie Lucifera. Auch Gaspare O. Melcher hat Graubünden früh verlassen und lebt seither in Mittelitalien, wo er sich zunächst intensiv mit der Frührenaissance auseinandersetzte.
Gaspare O. Melcher: Hommage an Emma Kunz, 2024
Es ging schon damals um die Suche nach einer höhere Ordnung; hinter der christlichen Ikonografie fand er die universale Gesetzmässigkeit, die ihn bis heute umtreibt. Seine Bildsprache, die er als junger Künstler aus neun Zeichen generierte, findet er viel später im alten Ägypten oder am Ufo von Roswell variiert wieder. Zurzeit erforscht er die heilende Kunst der Emma Kunz, deren Pendelzeichnungen ihm einen weiteren Hinweis auf die Heilige Geometrie bedeuten. Diese Studien hat er in einem farbigen Temperabild mit neun Ideogrammen zusammengefasst.
Das spektakulärste Werk Melchers in der Ausstellung trägt den Titel Grosses Leporello. Die Arbeit von 1989 erstreckt sich rund zwanzig Meter lang über die längste Wand des Raums, und es ist anzunehmen, dass sie wohl sehr lange nicht mehr in ihrem ganzen Umfang gezeigt werden kann.
Gaspare O. Melcher: Grosses Leporello. Stempeldruck Archivtinte auf Papier, 1989 (Ausschnitt)
Es sind 12 Tafeln mit je 48 gestempelten Bildern in Serien, im ganzen 576 Ideogramme. Der erste Stempel ergibt ein Grundmotiv, für jeden nächsten Abdruck wird die Stempelfläche neu bearbeitet, so dass sich das eine Motiv aus dem anderen entwickelt: Die Geschichten, die hier erzählt werden, oder die der Betrachter herausliest, sind ein Universum von Leben und Vergehen, Gewalt und Liebe, Kunst und Tod.
Auf dieses Gemälde von Matias Spescha von 1998 nimmt Gaspare O. Melcher mit der aktuellen Arbeit «Il confine del visibile» (Die Grenze des Sichtbaren) Bezug
Gegenüber hängt ein monochrom schwarzes Bild von Spescha, über das sich eine weisse Linie erstreckt. Immer wieder fällt auf: zwei sehr unterschiedliche Künstler sind hier in idealer Weise vereint präsentiert. Dem Kunsthistoriker und früheren Direktor des Bündner Kunstmuseums stimmen wir zu: «Diese Ausstellung bringt einen Mehrwert, keiner der beiden zieht den kürzeren, der ältere wird nicht missbraucht, der jüngere fällt nicht durch, wie es bei den modischen Gegenüberstellungen heute oft geschieht».
Ogna, die begehbare Plastik von Matias Spescha, ist seit der Eröffnung 2013 jederzeit zugänglich.Foto: Adrian Michael
Ein kurzer Spaziergang aus dem Ort zum Rhein hinab führt uns zur Ogna, einer begehbaren Skulptur von Matias Spescha: Er hat sie im Modell mit den Wandmalereien und Skulpturen detailliert geplant, gebaut wurde sie nach seinem Tod.
Titelbild: Vor dem Leporello von G.O.Melcher im SpaziSpescha
Fotos: © E. Caflisch
Bis 25. Mai (geöffnet Freitag bis Montag 14 Uhr bis 17 Uhr)
Spazi d’Art Matias Spescha
Am 3. Mai wird der Kunsthistoriker Beat Stutzer mit Gaspare O. Melcher in der Ausstellung ein Künstlergespräch führen.
Trun Cultura
Ruinaulta – Rheinschlucht
Danke für diesen informativen Text! Mit vielen Bildern!!