Briefe einer Tochter an ihre Mutter stehen im Mittelpunkt einer Tragödie, die sich während des zweiten Weltkriegs zwischen Berlin und Basel abgespielt hat. Der Basler Jurist Christian Brückner hat die Briefe im Buch «Spreche morgen Rolf» herausgegeben und historisch eingeordnet.
Das Werk ist ein authentisches Zeugnis eines jüdischen Familienschicksals, wie es
unter der Nazi-Diktatur viele gab. Die originalen Briefe und Postkarten machen sehr betroffen. Sie belegen, wie sehr die jüdische Bevölkerung Deutschlands ab 1933 unter der zunehmenden Repression der Nationalsozialisten litt. Man versuchte, sich mit den Schergen, deren Schikanen, Einschränkungen zu arrangieren und codierte listig die schriftlichen Kommunikationen.
Ursprünglich lebte die jüdische Familie Frank-Feldberg (nicht verwandt mit der Familie von Anne Frank) in Leipzig. Als der Textilunternehmer Hermann Frank 1932 starb, zog dessen Witwe Hilde Frank 1933 zusammen mit den beiden Kindern Anita (geb. 1921) und Reinhard (1928) nach Berlin.
Das Geschwisterpaar Reinhard und Anita Frank im September 1940.
Dort hatte gerade Adolf Hitler die Macht ergriffen und begann, die Juden systematisch zu verfolgen. Anita entschied sich für eine Ausbildung zur Krankenschwester am Jüdischen Krankenhaus. Bruder Reinhard ging noch zur Schule.
Zu lange negierte Hilde Frank die wachsende Gefahr für die jüdische Bevölkerung. Erst mit der Reichskristallnacht im November 1938 realisierte sie, dass auch ihre Familie mit einer Deportation rechnen musste. Durch eine arrangierte Bürgerrechtsehe mit einem 62-jährigen Schweizer, der es auf das Vermögen der wohlhabenden Jüdin abgesehen hatte, rettete sie sich 1940 nach Basel und hoffte, die Kinder nachholen zu können. Eine Genehmigung der Schweizer Behörden liess auf sich warten. Als diese endlich eintraf, war es zu spät. Die Nazis verboten die Ausreise von Juden ins Ausland.
Anita Frank in der Arbeitskleidung einer Berliner Krankenschwester (1941).
Anita und Reinhard platzierte die ausgereiste Mutter bei einer Pflegefamilie. Als diese verhaftet wurde, wechselte Reinhard zu einer anderen Pflegefamilie. In Basel nahm Hilde den Namen ihres Schweizer Ehemanns an und versuchte via Mittelsmänner, ihre beiden Kinder nach England in Sicherheit bringen zu lassen. Als auch dies misslang, plante sie die Kinder illegal über die «grüne Grenze» in die Schweiz zu schmuggeln. Doch auch dieser Plan erwies sich als zu gefährlich. Ende Juni 1942 schlossen die Nazis jüdische Schulen und Sohn Reinhard zog zu seiner Schwester ins Krankenhaus.
Einblicke in den Spitalalltag
Das Hauptgebäude des Jüdischen Krankenhauses in Berlin vor 1943.
Von ihrem Arbeitsort berichtete Anita regelmässig über die aktuellen Geschehnisse und schilderte eindrücklich die zunehmenden Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung. Auch die Schicksale von Verwandten und Bekannten aus der Verfolgungszeit geraten dabei in den Blick.
In ihren Briefen an die Mutter vermied Anita Kommentare zur Grausamkeit der Nazis, berichtete aber, dass sie im Spital, das auch Nicht-Juden aufnahm, hart arbeiten musste. «Ich habe jetzt enorm zu schuften, täglich Schlussdienst, kaum Mittagspausen, oft, wenn Geburten sind, komme ich abends nicht vor 23 Uhr von der Station… Ich bin aber trotzdem dankbar, dass ich weiter dort arbeiten kann und dass meine Arbeitet geachtet wird» (Brief vom 21. Juni 1941).
Zensurstempel: Briefumschlag eines Schreibens an Hilde vom 27. Juni 1942. Auf der Rückseite befinden sich Reinhards Handschrift und der Name seines Pflegevaters, Julius Schulmeister. Der Brief war von Mitarbeitenden des «Oberkommandos der Wehrmacht» geöffnet und gestempelt worden.
Im September wurde Anitas Ex-Freund Rolf, der sich in eine andere Krankenschwester verguckt hatte, von den Nazis verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Die junge Frau, die ihren Ex-Geliebten immer noch mochte, berichtete ihrer Mutter in codierter Form: «Rolf ist leider sehr schwer erkrankt, er wurde im Auto in ein Krankhaus gefahren.» (Brief vom 17. März 1942). In den Briefen berichtete sie ihrer Mutter immer häufiger, dass Bekannte und Freunde verreist seien. In Tat und Wahrheit waren sie alle deportiert worden.
Trotz der deprimierenden Situation gab sich Anita in den Briefen stets bescheiden-optimistisch und sprach ihrer verzweifelten Mutter Mut zu: «Von ganzem Herzen hoffe und wünsche ich, dass Du mein Gutes gesund bist, wenn Dich auch oft Deine Kräfte infolge all des Schweren zu verlassen drohen. Ich nehme diese Jahre für meinen Bruder und mich als Lehrjahre des Lebens, und ich glaube, es wird wohl selten wieder so glückliche und bewusst zufriedene Menschen geben wie uns» (Brief vom 5. März 1943).
1943 wurde Anita nach Theresienstadt, von dort nach Auschwitz und weiter nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie 1945 an Typhus starb. «Spreche morgen Rolf» war der Abschiedsgruss, den Anita am Vorabend ihres Transports an die Mutter in Basel sandte – die chiffrierte Ankündigung des mutmasslich letzten Ganges zu ihrem Geliebten Rolf, der bereits zwei Jahre zuvor deportiert worden war.
Anitas letzte Postkarte aus Theresienstadt an Hilde vom 18. Oktober 1944.
Anitas jüngerer Bruder Reinhard konnte kurz vor Kriegsende aus dem Konzentrationslager fliehen. Über Umwege gelangte er nach dem Krieg nach Basel und erfuhr dort, dass seine Mutter Hilde am 1. August 1945 im Basler Bürgerspital gestorben war. Im September 1944 hatte Hilde ihre Kinder aus den Augen verloren. Sie starb ohne Kenntnis des Ablebens ihrer geliebten Tochter in Bergen-Belsen. Sohn Reinhard beauftragte einen Basler Anwalt mit der Nachlassverwaltung und übergab ihm auch Anitas Korrespondenz, mit dem Wunsch, diese zu veröffentlichen. Was nun auf eindrückliche Weise gelungen ist.
Das Buch enthält zahlreiche berührende Fotos der Familie Frank sowie Faksimile der Original-Briefe und Postkarten. Zwei Familien-Stammbäume sowie Kurzbiografien der beschriebenen Personen runden das für die Nachwelt wichtige Werk ab. Historisch wertvoll sind die vom Herausgeber stammenden Zwischentexte, welche die Ausbreitung der Nationalsozialisten und deren Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung verständlich beschreiben und einordnen.
Christian Brückner (Herausgeber), «Spreche morgen Rolf», Ein jüdisches Familienschicksal zwischen Berlin und Basel, 1933 bis 1945. Christoph Merian Verlag Basel 2025, ISBN 978-3-03969-039-8.
Titelfoto: Links: Hilde Frank mit Anita und Reinhard,1929. Rechts: Hermann Frank, um 1920. (alle Fotos aus dem Buch)
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Merian Verlag
Zur Person des Herausgebers
Christian Brückner (geb. 1942) war Reinhard Frank, dem einzigen Überlebenden der Familie, seit 1978 als juristischer Berater und später auch als Testamentsvollstrecker verbunden. Der gebürtige Basler arbeitete als Rechtsanwalt und Notar in seiner Heimatstadt und war dort an der Universität als Dozent tätig, ab 1991 als ausserordentlicher Professor für Privatrecht. Seine Publikationen umfassen Bücher und Aufsätze zu juristischen und anderen Themen. Auf Wunsch von Reinhard Frank publizierte er das Buch mit Anitas Briefen an Mutter Hilde und ergänzte die Schreiben mit historischen Fakten und Erläuterungen.