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Eine Welt, die wir nicht mehr kennen

Der Buchtitel «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» hat mich angesprungen. Das Freiamt im Kanton Aargau ist mir vor allem durch das Kloster Muri bekannt. Ich bin gespannt, was die Autorin Maria Galizia-Fischer in ihren «Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend» erzählt.

Maria Galizia-Fischer blickt auf ihre Kindheit und Jugend zurück und veröffentlicht mit 91 Jahren ihr erstes Buch «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?». Sie erzählt von einer Welt, die wir so nicht mehr kennen. In ihren Erinnerungen lässt sie Menschen und Orte der Vergangenheit lebendig werden. Auch mit Mundartpassagen, für die es am Buchende ein Glossar gibt.

Katholiken und Reformierte

Die Familie Fischer-Kaufmann lebte auf einem Bauernhof, weitgehend selbst versorgt und vom Milchzahltag. Als viertes von zehn Kindern kam Maria 1933 in Merenschwand im katholischen Oberfreiamt zur Welt. Auf der anderen Seite der Reuss, wo die Reformierten lebten, begann für sie bereits die Fremde.

Heimathof in Merenschwand. Foto: © Ortsmuseum Merenschwand (Bruno Käppeli)

Bis in die 1950er Jahre gab es in ländlichen Gegenden einen Graben zwischen Katholiken und Reformierten, den ich selbst als Kind im aargauischen Limmattal noch erlebte. Eine Heirat zwischen Katholiken und Reformierten durfte damals nicht sein. Bei ihrem ersten Ausflug ins zürcherische Obfelden stellte die fünfjährige Maria gleichwohl erleichtert fest: «Die Geranien der Reformierten blühen genauso prächtig wie ennet der Reuss bei uns Katholiken.»

Als 1938 im Aargau die Kinderlähmung ausbrach, war Maria eines der betroffenen vier Kinder im Dorf. Dank den täglichen Massagen der Mutter wurde ihr Bein kräftiger, doch eine Behinderung blieb zeitlebens, «obwohl ich später», schreibt sie, «sogar Stöckelschuhe getragen habe.» Die Mutter war das Zentrum der Familie, sie hielt die Familie zusammen und war eine begabte Schneiderin. Sie schaffte es, aus einfachen Stoffen schöne Kleider für die Familie zu nähen, die Maria Galizia-Fischer in ihrem Buch mehrfach erwähnt.

Nachrichten aus aller Welt

Im Obergeschoss des Hauses lebte auch die gichtkranke Tante Babette, die «an ihren Stuhl gefesselt war». Die Familie kümmerte sich um sie. Als Einzige besass sie ein Radio, das sie von der Invalidenversicherung erhalten hatte, und so hörte man vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Von den Gräueln der Judenverfolgung erfuhr die Familie durch eine italienische Hausiererin, die in ihrer Hutte, ihrem Rücktragekorb, Seidenschals, Krawatten, Bänder, Haarspangen, Nähfaden und vieles mehr an der Haustüre feilbot und Nachrichten aus aller Welt mitbrachte. Da die Lebensmittel kriegsbedingt rationiert wurden, gewannen die Bauern an Ansehen. Der Schwarzhandel mit Lebensmitteln wie Milch oder Speck war in Kriegszeiten jedoch verboten und wurde mit Gefängnis bestraft.

Im Pfarrhaus von Sarmenstorf

Die Autorin erzählt von den Besuchen im Pfarrhaus in Sarmenstorf. Hier waren ihr Grossonkel Hochwürden Anton Kaufmann, ein Onkel der Mutter, und dessen Schwester Anna Kaufmann als Pfarrhelferin, zu Hause. Es war damals üblich, dass ledige Schwestern als «Pfarrköchin» im Pfarrhaus mitarbeiteten und so auf eine Ehe verzichteten.

Es war auch nicht ungewöhnlich, dass einzelne Kinder aus Grossfamilien an kinderlose Familienmitglieder abgegeben wurden. So kam Marias jüngere Schwester Julie 1941 ins Pfarrhaus nach Sarmenstorf in Pension. Sie war sechs Jahre alt und durfte dort den Kindergarten besuchen, was es in Merenschwand nicht gab. Nach Marias Meinung hatte Julie das grosse Los gezogen. Doch Julie litt unter Heimweh und fragte, wieso sie nicht mit ihren Geschwistern zu Hause leben durfte.

Pfarrer Anton Kaufmann war sozial engagiert und setzte sich für die Rechte der Arbeiter ein wie der Bally-Schuhfabrik oder der Sprengstofffabrik in Dottikon, zudem war er Mitglied des Aargauischen Grossen Rates. Als die Maul- und Klauenseuche ausbrach und die Existenz der Familie bedroht war, schickte er der Familie Honig, Zucker, Schokolade und «Gottes Segen». Der Vater, ein stiller Schaffer, pilgerte mit Maria und ihrem Bruder zur nächstgelegenen Wallfahrtskirche, wo sie nach einem kurzen Rosenkranzgebet und Kerzenanzünden «guten Muts und dankbar» den Nachhauseweg antraten. Das Gebet gab den Menschen in schwierigen Situationen immer wieder Zuversicht.

Zeit der Ausbildung

Ausser der «Bibel mit farbigen Bildern» gab es im Elternhaus kaum Bücher. Märchen und Kinderbücher durften beim Lehrer ausgeliehen werden. Maria war eine gute Schülerin und musste für den Übertritt in die Bezirksschule nicht zur mündlichen Prüfung antreten. Der Schulweg zur Bezirksschule in Muri führte durch den Wald: mit dem Velo gute vierzig Minuten, im Winter zu Fuss fast eine Stunde.

Die Eltern, März 1983. © Aus dem Privatbesitz der Autorin

Latein war Maria von den Gesängen im Kirchenchor her vertraut, und sie wollte diese alte Sprache unbedingt lernen. Doch der Rektor der Schule befand, das sei für ein Mädchen, zudem für eine Bauerntochter, nicht nötig. Es war die erste Zurücksetzung, die sie als Mädchen erfuhr, denn «zu Hause gab es keinen Unterschied, auch nicht in der Berufswahl», schreibt sie, «und auf dem Hof waren die Arbeiten zwar nach Geschlecht klar verteilt, jedoch galten alle gleich viel.»

Die Eltern wollten ihr den Besuch des Lehrerinnenseminars ermöglichen. Dazu fehlte ihr aber das Fach Geometrie. Im Kloster Menzingen im Kanton Zug konnte sie im Vorkurs die fehlenden Kenntnisse nachholen. Doch die Kosten waren hoch und die ständige Überwachung durch die Klosterfrauen, die Einheitskleidung und das Schweigegebot während des Essens bedrückend. So suchte Maria eine neue Lösung.

Im Jahr darauf, 1951, schaffte sie die Aufnahmeprüfung für die Töchterschule in Aarau. Hier war sie die Einzige aus dem Freiamt, die eine höhere Schule im «fernen protestantischen Aarau» besuchte. Sie pendelte mit der Bahn nach Aarau. Dabei stiegen auf dem Rückweg jeweils Scharen von Frauen und Mädchen ein, bleich und müde von der Fabrikarbeit, zumal sie noch bis tief in die Nacht für die Strohindustrie in Wohlen zu Hause arbeiten mussten.

An den Rat des Dorfpfarrers, der Vater «solle seine Töchter doch in die Fabrik schicken, sie würden später ohnehin heiraten», erinnert sie sich mit Entsetzen. Wie glücklich war sie, dass die Eltern nicht auf ihn hörten und die Bildung für ihre zehn Kinder ernst nahmen. Auch wenn dies nur unter «grossen Anstrengungen und vielen Verzichten, auch dank etwas Glück im Stall» möglich war.

Porträt der Autorin Maria Galizia-Fischer. Foto: © Ayşe Yavaş

Der Weg als Lehrerin

Nach der erfolgreichen Lehrerpatentprüfung in Aarau erwarteten die Eltern, dass Maria an den Schulen in Merenschwand und Beinwil wirken würde. Doch die Stellen waren besetzt. Deshalb arbeitete sie an verschiedenen Orten in der Schweiz als Lehrerin, aber auch als Kinderbetreuerin oder als Erzieherin im «Heim für gefährdete Mädchen» in Zürich. Sie musste doch Geld verdienen. Schliesslich wurden Stellen in Beinwil und Merenschwand frei, und sie unterrichtete Mädchen und Buben mit grossem Engagement in Hauswirtschaft an der Oberstufe und an der Fortbildungsschule.

Die späteren Jahre

In den Schlusskapiteln beschreibt Maria Galizia-Fischer, wie sie ihren Ehemann, den Bildhauer und Maler Rico Galizia (1921-1985) kennenlernte. Sie berichtet auch, wie ihr Vater den Hof aufgab und nur noch seine geliebten Kühe im Stall des Sohnes striegeln konnte. Als Maria mehr Arbeit im Schuldienst übernahm, sprang die Mutter ein und kochte für die junge Familie, bis sie selbst umsorgt werden musste. Kurz vor dem Tod gestand sie der Tochter, «dass ihr Herzenswunsch, Lehrerin zu studieren, sich nicht habe erfüllen lassen.» Doch war es eine Genugtuung, dass dieser Wunsch in ihrer Tochter Wirklichkeit wurde.

Titelbild: Die kleine Maria mit ihrer Tante Frida. © Aus dem Privatbesitz der Autorin

Maria Galizia-Fischer, «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist? Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend», Limmat Verlag, Zürich 2025. ISBN 978-3-03926-091-1

 

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1 Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen schönen Artikel.
    Gerade ist im Schweizer Strohmuseum in Wohle (Freiamt) eine schöne Ausstellung über Handbesen zu sehen. Ich habe sie mit einer Kollegin zusammen kuratiert.

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