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Hitlers Porträt im Urner Gasthof

Ausgerechnet in der innersten Zentralschweiz, ausgerechnet in der Altdorfer Munitionsfabrik MFA war eine Nazi-Zelle während des zweiten Weltkriegs besonders aktiv. Historiker Reto Gamma legt nun ein Buch vor, das diese Geschichte dokumentiert: „Die Nazis vom Schächenwald“.

Als Olga K. im Winter 1940/41 ihre Arbeit als Serviceangestellte im Gasthof Burg Attinghausen antritt, fällt ihr auf, dass Hitlers Porträt allgegenwärtig ist, sogar in ihrem Zimmer. Sie stellt fest, dass die jungen Männer am Stammtisch von der Wirtin mit „Heil Hitler“ begrüsst werden, wie sie als Zeugin später zu Protokoll gibt, und verlässt die neue Stelle schon nach zwei Tagen. Anführer und Hitler-Verehrer Hans Imholz ist der Sohn des Wirte-Ehepaars, an dem Stammtisch sitzen vor allem Arbeiter der MFA. Die Fabrik – damals schon über 2500 Beschäftigte – ist für Imholz das ideale Rekrutierungsfeld.

Das Restaurant Burg in Attinghausen. Staatsarchiv Uri

Reto Gammas Text über die Nazigruppe Altdorf, den Zusammenschluss von Arbeitern der Munitionsfabrik Altdorf mit Basis im Restaurant Burg, unterstreicht den Ausspruch, die Grossen lasse man laufen, die Kleinen würden gehängt: Die Urner Nazis wurden 1941 festgenommen und drei wegen Landesverrats angeklagt, während der Waffenfabrikant Dieter Bührle mit dem Segen der Eidgenossenschaft Waffen nach Deutschland, die Altdorfer Munitionsfabrik die passende Munition in Mengen an Bührle lieferte. Reto Gamma fragt daher kritisch nach Neutralität, Waffenexporten oder Unabhängigkeit der Militärjustiz, Themen, „die erneut aktuell sind“.

Bührle ist nie angeklagt worden. Die wegen Landesverrats angeklagten Urner sind immerhin nicht mit dem Tod bestraft worden. Hans Imholz (machte eine Skizze der MFA-Betriebsstätten zuhanden eines Agenten) und Josef Wipfli (Anstiftung zur Entwendung von Zeitzündern) bekommen 15 Jahre Zuchthaus aufgebrummt. Imholz wird nach rund zehn Jahren bedingt entlassen und führt bis zu seinem Tod 1984 den Gasthof Burg, den er von seinen Eltern übernommen hat und zur erfolgreichen Güggeli-Hochburg macht. Begründet wird das milde Urteil des Territorialgerichts 3A mit der „Jugendlichkeit“ der Verräter, obwohl bei zweien eine Verurteilung mit Todesstrafe angestrebt worden ist.

Historische Aufnahme der eidg. Munitionsfabrik Altdorf. Staatsarchiv Uri 

Die Gerüchte um die Nazis in der MFA haben den Autor Gamma seit seiner Jugend im Kanton Uri beschäftigt. Nach der Pensionierung will er es genauer wissen. Seine Recherchen im Bundesarchiv und im Urner Staatsarchiv und weiteren Quellen sind nun zugänglich und spannend zu lesen: Kurze Kapitel berichten vom Rekrutierungsort Munitionsfabrik, damals der grösste Arbeitgeber im Kanton, von einer Carreise nach Zürich zur Weiterbildung bei Nazifreunden in Sachen Umsturz, aber auch von der raffinierten Aufdeckung des Komplotts durch zwei junge Männer aus Bürglen und in der Folge erste Abklärungen vor Ort durch einen Bundesanwalt.

Je nach Weltlage verändert sich die Beschäftigtenzahl der MFA massiv.

Franz Imhof, der später als Bibi berühmter Sportfan ist, und Gustav Truttmann erschleichen sich durch einen raffinierten Trick belastendes Material bei der Frau von MFA-Arbeiter Jakob Meier, Mitglied der Eidgenössischen Sammlung, ebenfalls ein Nazi-Geheimbund. Erstmals untersucht die Bundesanwaltschaft im Kanton Uri, wobei sie Meier nicht für gefährlich hält, aber die Aktion von Truttmann und Imhof heftig kritisiert. Immerhin ist die Urner Bevölkerung in Alarmbereitschaft gesetzt worden.

Aufmarsch der «Reichsdeutschen Jugend» zum Sportfest auf dem Letzigrund in Zürich, Herbst 1941. Archiv Stadtpolizei Zürich

Manche der Kurzgeschichten lesen sich wie Krimis. Die genauen Quellenangaben sowie Anmerkungen stehen neben dem Text. Darin geht es auch um Raufereien der Nazi-Gruppe mit den anderen Arbeitern in der MFA oder mit einer Schwingergruppe in einem Restaurant und um das Pfingstfest 1941, bei dem Zürcher Nazifreunde sowie der später verurteilte Reichsdeutsche Wilhelm Staiger anreisen. Am Mittwoch nach Pfingsten kommt es zur grossen Razzia und ersten Verhören. Hans Imholz sagt laut Verhörprotokoll am 6. Juni 1941: „Jawohl, unsere Gruppe plant die Errichtung eines nationalsozialistischen Führerstaates.“

Wahlplakat 1933

Pikant: Sein Verteidiger war der Rechtsanwalt Robert Tobler aus Zürich, einer der Gründer der Nationalen Front, dem Schweizer Pendant zur NSDAP. Imholz’ Vater, Wirt im Gasthof Burg, war damals auch Urner Landgerichtspräsident und wurde des Amts enthoben. Während des Kriegs herrschte strenge Pressezensur, auch im Kanton Uri. Daher drang wenig über die Vorfälle um die rund 30köpfige Nazigruppe an die Öffentlichkeit durch. Aber es wurden immer wieder Einzelfälle von mutigen Frauen und Männern bekannt, die sich mit der Heil-Hitler-Bande angelegt hatten. Und der Druck auf die Behörden war nach der Verurteilung von Imholz und Wipfli so gross, dass die Gotthardpost am 7. Februar 1942, rund zehn Tage nach einer lapidaren amtlichen Meldung ohne Namensnennung die Namen veröffentlichte.

Dokumentiert hat Gamma zusätzlich die gesamtschweizerische Praxis der Todesurteile für militärische Vergehen. Weniger Glück als die beiden Urner hatten jene 17 Verurteilten, deren Todesurteile durch Erschiessen vollstreckt wurden, der Bekannteste war Ernst S. 15 weitere Todesstrafen konnten nicht vollstreckt werden, weil sich die Angeklagten nach Deutschland abgesetzt hatten.

Buchcover

Die Schlusskapitel des Berichts beleuchten die militärische Zusammenarbeit der Schweiz mit Hitlerdeutschland. Die Originalakten sind erst seit 1990 zugänglich. Gamma dokumentiert vor allem die Zusammenhänge zwischen der eidgenössischen MFA, der Werkzeugmaschinenfabrik (!) Oerlikon, alias Rüstungskonzern Bührle und der deutschen Wehrmacht. Fazit des Autors: „Das war eine Verletzung der Neutralität, die unter den Teppich der Geschichte gekehrt werden sollte.“

Der reich bebilderte Band Die Nazis vom Schächenwald ist ein Sachbuch, das sich an eine breite Öffentlichkeit wendet. Die Dokumente und Gerichtsakten aus dem Bundesarchiv sind so aufbereitet, dass niemand vor der Lektüre kapituliert, aber gut unterfüttert mit Zitaten und Hinweisen auf die Quellen. An Präzision bleibt nichts zu wünschen übrig.

Titelbild: Geschoss-Produktion in der Munitionsfabrik Altdorf. Bundersarchiv

Buchhinweis: Reto Gamma: Die Nazis vom Schächenwald. Ein historischer Bericht. Alpenrot-Verlag. 2024. ISBN 978-3-905033-10-6

 

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