Im Sulzer-Areal Winterthur leben mehrere Dutzend Ehepaare und Einzelpersonen ü50 in einem Neubau mit drei verschieden grossen Typen von Loft-Wohnungen zur Miete. Grosszügig und vielfältig sind die perfekt ausgestatteten Gemeinschaftsräume. Ein Augenschein im Zusammen_h_alt.
Alt werden, ohne in einer WG oder einem Heim leben zu müssen, alle Vorteile der Nachbarschaft geniessen, ohne Streitereien aushalten zu müssen. Das ist der Wunsch vieler älterer Menschen, die mit der Last der zu grossen Wohnung nicht mehr zurechtkommen, vielleicht allein sind, weil der Partner gestorben, die Kinder und Enkel nur selten vorbeischauen und die Nachbarschaft sich massiv verändert hat.
Ein Komplex von Industriebauten und der Neubau Zusammen_h_alt mit dem Bistro im Erdgeschoss.
Vor rund 20 Jahren veranstalteten ein paar Freunde, die den 60. Geburtstag hinter sich hatten, einen ersten Impulsabend, bei dem sie ihre Vision vorstellten: erschwingliche Wohnungen für Leute wie sie, fit genug um mit Lust einen neuen Lebensabschnitt zu planen. Anderthalb intensive Jahrzehnte gingen vorbei, bis das Haus der Genossenschaft Zusammen_h_alt fertig gebaut und bezugsbereit war. Dazwischen musste geplant und projektiert werden, die Finanzierung sollte so aufgehen, dass erschwingliche Mieten für Ein- bis Dreizimmerwohnungen möglich würden. Ein Verein, später eine Genossenschaft wurde gegründet, mehrere der damaligen Gruppe leben heute in dem Haus.
Die Realisierung wurde dank der Stiftung Abendrot, Basel, möglich. Diese alternative Pensionskasse hat den westlichen Teil des Sulzer-Areals in Winterthur mit dem Ziel erworben, die Bauten zu erhalten und umzunutzen. So bleibt die Geschichte einer prägenden Grossindustrie erhalten.
Nicht nur das Haus an der Tössfeldstrasse, auch die Umgebung passt den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern des Zusammen_h_alt: Parallel zu den Bahngleisen führt eine Flaniermeile zu ihrem Wohnhaus, offiziell beginnend beim alten Pförtnerhaus, wo es den besten Kaffee gebe.
Vor dem Hostel steht ein gigantischer Anker als Zeitzeuge.
In den Industriebauten haben sich Restaurants und Gewerbebetriebe, ein Hostel, eine Sporthalle und ein Kino eingemietet, sogar ein Museum mit Ausstellungen über Arbeiten und Migration, Schaffen genannt, ist eröffnet worden und einigen Raum beansprucht die Architekturabteilung der ZHAW: Ein lebhaftes Quartier mit hohem Wohlfühlpotential.
Urs Beat Roth, Bewohner und Visionär der ersten Stunde führt mich bis zum Haus Tössfeldstrasse 21: Wo jetzt der Neubau steht, war einst ein Parkplatz. Am Bistro vorbei geht es zur Einhangshalle mit einer Wand voll blauer Briefkästen und der Inschrift WILL KOMMEN. WILL GEHEN. WILL BLEIBEN. Die Wegmarken finden sich überall im Haus, es ist hintergründig poetische Kunst am Bau von Beatrice Bucher.
Mit dem Lift fahren wir aufs Dach, wo an einem Wäscheschirm Kleidungsstücke im Wind trocknen. Der Rundblick ist imposant: «Mein Baby,» sagt Roth, denn die Baukommission, wollte diese Terrasse aus Kostengründen streichen, Balkone gebe es genug. Aber nun wird sie gern besucht, ohnehin beteiligen sich alle mit der Miete an den Kosten der öffentlichen Räume vom Waschsalon über die Sauna und die Bibliothek bis zum grossen Badezimmer mit Wanne, weil es in den kleinen Wohnungen nur Duschen gibt.
Urs Beat Roth allein auf der Dachterrasse. Zu früh am Tag für Happy Hour
An eines hat man rechtzeitig gedacht: Geputzt werden Treppenhäuser, Werkstatt, Bibliothek, kurz, alle öffentliche Räume von einem Putzinstitut. Denn der Horror einer Ämtli-Liste sitzt manchen von WG-Zeiten her tief in den Knochen, andere hätten sich wohl kaum einbinden lassen. Selbstverständlich fallen auch Verwaltungsarbeiten an, aber nebst dem Sekretariat fänden sich genug Freiwillige mit Kompetenz und Lust an der Aufgabe, ist der Dokumentation zu entnehmen: Zusammen_h_alt ist eine Genossenschaft, die der Hauseigentümerin, der Stiftung Abendrot eine Pauschalmiete bezahlt und ihrerseits die Wohnungen plus Gewerberäume vermietet. So gibt es im Haus auch eine Kita, ein kleines Gästehaus und verschiedene Kleinfirmen wie einen Coiffeursalon oder eine Massagepraxis.
Es gibt immer einen Grund zum Feiern
Für meinen Guide war entscheidend, dass das Projekt eine Mindestgrösse hat: «Ich war einst in einer eher kleinen Hausgemeinschaft mit 15 Parteien, da sind Konflikte nicht zu vermeiden.» Bei hundert Menschen können sich viele Gruppen bilden, einerseits Interessengruppen wie die IG Boule oder die IG Lismerei, andererseits Arbeitgruppen, welche dafür sorgen, dass es mit der Nutzung beispielsweise der Sauna oder der Profiküche passt und die Nägel in der Werkstatt nachgefüllt werden.
Die nach Süden ausgerichtete Gartenterrasse
Wir steigen treppab, schauen uns in der SAUNAH und im RAUM DER STILLE um, blicken kurz in den EIMER, wo Putzgerät steht, und landen im 3. Obergeschoss auf der Gartenterrasse, auf der in grossen Containern Blumen, Gemüse oder Kräuter angebaut werden, besuchen quer durchs Haus die Essterrasse mit Gemeinschaftsraum und gut bestückter Küche. Beliebt sei, sagt unser Guide, seinen Teller bei gutem Wetter um die Essenszeit hierher zu bringen und sich irgendwo dazuzusetzen.
Gemütlich und stilvoll: die Plattform, wo es in einer Truhe auch Kinderspielzeug für Enkelbesuche gibt.
Herzstück der Anlage ist die Plattform, ein hoher Raum mit Galerie, auf der eine Reihe von Arbeitstischen zum Malen, Maschinennähen, oder Puzzle legen stehen. Hinter dem Töggelikasten geht es in die professionell eingerichtete Werkstatt mit massivem Hobelbank. Besser als jeder frühere Bastelraum.
Die Schneiderpuppe vor dem Waschsalon kann auch benutzt werden.
Nächste Station ist der Waschsalon, denn weder mit Näh- noch mit Bohr- oder Waschmaschinen sollen die eher kleinen Wohnungen zugestellt werden. Statt 76 Waschmaschinen sind es gerade mal sechs, dazu vier Tumbler plus Trockenraum, reichlich genug, wie Urs Beat Roth sagt, und erst noch nachhaltig.
Dann führt er uns gleich gegenüber von einem der Nähtische in seine Wohnung. Das 40-Quadratmeter-Modell genügt ihm, der Architekt und Künstler hat noch sein Atelier in Zürich: Grafik an der Wand, Architekturbücher und der Laptop fallen auf. Wir dürfen in andere Wohnungen blicken und sehen, wie unterschiedlich eingerichtet wird – ein Stück Heimat von früher bringen alle mit.
Vor der Wohnungstür wird da und dort mehr als das Namensschild geboten
Sichtbar ist die Individualität der Menschen auch vor der Wohnung: Die einen schmücken ihre Aussenwand oder das mit Rollo auch blickdicht verschliessbare Fenster neben der Türe mit Postkarten oder Enkelbildern, andere basteln ihr ganz persönliches Stillleben. Urs Beat Roth zeigt stolz sein «aperiodisches Pattern», ein Muster aus ganz wenigen geometrischen Formen, das sich «bis zur Unendlichkeit nie» wiederholt.
In dieser Bibliothek gibt es von Klassik über Kochbuch bis zum Kitschroman alles.
Wir bewegen uns Richtung Erdgeschoss, schauen in die grosszügige Bibliothek mit Cheminee und Tageszeitungen sowie in den Musikraum, in dem nicht nur einzeln geübt, sondern auch im Ensemble geprobt wird, und wenden uns schliesslich dem Velokeller zu, wo wir einen Bekannten treffen, nämlich den pensionierten Fernsehmann Peter Spring: «Wohnen in diesem Projekt stimmt für mich,» sagt er, «ich habe meist in WGs gelebt, aber allein im grossen Haus passte mir nicht mehr, ich überliess es meinen Söhnen.»
Bewohner Peter Spring bringt die Einkäufe per Velo heim
Weitere Gespräche führen wir im Bistro neben dem Haupteingang: Markus Gerber hat eine Vierzimmerwohnung in der Nähe gekündigt und lebt nun seit drei Jahren glücklich und zufrieden auf 60 Quadratmetern, die er oft verlässt «um Leuten zu begegnen.» Ich treffe Frauen, die verwitwet sind und sich an der unkomplizierten Nachbarschaft freuen, die der Zusammen_h_alt bietet. Eine gute Erinnerung trage ich nachhause: Meine achtlos abgelegte Jacke kam zurück. In dieser Hausgemeinschaft geht nichts und niemand verloren.
Titelbild: Urs Beat Roth, der Guide von Seniorweb vor seiner Wohnung mit dem aperiodischen Muster auf dem Fenster zum Flur.
Fotos: Genossenschaft Zusammen-h-alt und Eva Caflisch
Hier finden Sie mehr zum Wohnprojekt Zusammen_h_alt, der Genossenschaft für Tätigsein und Wohnen in der zweiten Lebenshälfte
Spannend zu lesen. Habe mich bestens durch das Haus geführt gespürt. Wer würde nicht auch gerne an so einem Ort wohnen? Eigenbrötler haben wohl etwas Mühe. Offenheit und Toleranz sind bestimmt wichtige Voraussetzungen.