Um Aussenseitertum, Kirchenasyl, die Scheinheiligkeit der Kirche, Zivilcourage und Menschlichkeit geht es im Musical «Der Glöckner von Notre Dame». An der gestrigen Premiere entführten ein 45-köpfiges Ensemble sowie ein Live-Orchester vor der Berner Alpenkulisse ein begeistertes Publikum in das mittelalterliche Paris.
Nach dem «Dällebach-Kari» und «Mary Poppins» bringen die Thunerseespiele in diesem Sommer ein weiteres Erfolgsmusical auf die Bühne. Auf der Seebühne gespielt wird «Der Glöckner von Notre Dame» nach dem Roman von Viktor Hugo (1831) und der preisgekrönten Musik des weltbekannten Disney-Films. Im Zentrum steht Quasimodo, der Glöckner der Kathedrale von Notre Dame, dessen Konturen zwischen Monster und Mensch verschwimmen.

Entstelltes Gesicht, Buckel und gebückter Gang: Quasimodo wirkt in Thun zurückgeblieben, kindlich-komisch.
Der entstellte Sohn einer Prostituierten und des Bruders eines Erzdiakons wächst, abgeschirmt von der restlichen Welt, im Glockenturm der Pariser Kathedrale auf. Von oben betrachtet er die Welt, und sein Wunsch wächst, sich unter die Menschen zu mischen. Gegen den Willen des Erzdiakons Frollo schleicht er sich auf das jährliche Fest der Gaukler und gerät prompt in Schwierigkeiten. Nur die mutige Prostituierte Esmeralda, die von Hauptmann Phoebus angebetet wird, steht für ihn ein. Als die Frau vom rachsüchtigen Erzdiakon entdeckt wird, rettet Quasimodo sie und versteckt sie bei sich im Kirchturm. Dort zeigt er seiner neuen Freundin die Welt von oben.

Die ebenso temperamentvolle wie bezaubernde Esmeralda am Ufer des Thunersees.
Doch dann entdeckt der mächtige Geistliche die Frau und verspricht ihr scheinheilig Schutz, wenn sie ihn liebt. Er begehre sie zu retten vor dem Unheil deer Welt. Esmeralda lehnt ab und flieht. Aus Eifersucht lässt der Erzdiakon die Prostituierte suchen und trifft Vorbereitungen, Esmeralda sowie deren Liebhaber, Hauptmann Phoebus, aus dem Weg zu räumen. Quasimodo lässt das nicht zu und rettet seine Freundin.
Phoebus wird vom Anführer der Gaukler, Clobin, befreit und das Pariser Volk wehrt sich gegen Frollo und dessen Soldaten. Im hochemotionalen Finale erkennt der Glöckner, was es bedeutet, ein Monster zu sein, und was es braucht, ein Mensch zu werden. Doch anders als bei «Mary Poppins» gibts im «Glöckner» kein Happy End.
«Zeitlose Kraft der Erzählung»
Erzählung, Musik und Choreografie spielen in Thun perfekt zusammen: Die Musik verstärkt, gemeinsam mit der eindrücklichen Naturkulisse, die Dramatik der Geschichte. Unter den Songs erkennt das Publikum zahlreiche aus dem Disney-Film bekannte Ohrwürmer (Agnus Dei, Kyrie Eleison, Oben fern von der Welt, Das Feuer der Hölle, der Klang von Notre Dame).
Die Erzählung ist sogar in der Gegenwart vorortet: Sie beginnt nach dem Brand der Notre Dame 2019 und führt das Publikum zurück ins Paris des 15. Jahrhunderts. «Unsere Inszenierung betont die zeitlose Kraft dieser Erzählung», erklärt Regisseur Dominik Flaschka, der auf der Seebühne 2018 bereits Mamma Mia! inszeniert hat. «Das Bühnenbild beginnt in Trümmern und erwacht im Verlauf der Vorstellung zu neuem Leben – ein starkes visuelles Symbol der Hoffnung.»

Soldaten auf der Suche nach Esmeralda.
Preisgekrönte Musik mit Chor
Das Musical «Der Glöckner von Notre Dame» wurde 1999 uraufgeführt und feierte als komplett überarbeitete Fassung 2017 nochmals Premiere. Die Filmmusik schuf der legendäre Musicalkomponist und achtfache Oscar- sowie elffache Grammy- und Emmy-Preisträger Alan Menken, gemeinsam mit dem ebenfalls oscarprämierten Liedtexter Stephen Schwartz.
Ein zwanzigköpfiger Chor unter der Leitung von Patrick Secchiari ergänzt in Thun die Solistinnen und Solisten auf der Seebühne und bringt so die opulente Musik (Dirigent des Live-Orchesters Iwan Wassilevski) und das sakrale Ambiente rund um die berühmte Pariser Kathedrale hervorragend zur Geltung.
Für die Ausgabe 2025 der Thunerseespiele hatten sich über 800 Musical-Darsteller und Darstellerinnen beworben. Die Hauptrolle als Quasimodo spielte an der Premiere Denis Riffel, bekannt aus Produktionen wie Dear Evan Hansen und Jesus Christ Superstar. Sharon Isabelle Rupa, dreifache Preisträgerin des Deutschen Rock- und Pop-Preises, übernahm zum Auftakt die Rolle der Esmeralda. In weiteren Rollen spielten gestern Abend Detlef Leistenschneider (Frollo), Oliver Floris (Phoebus) und Frank Josef Winkels (Clopin).
Künstlerinnen und Künstler aus fünf Nationen
Neben den fünf deutschen Hauptdarstellenden stehen auch vier Schweizerinnen, Anja Quinter, Amaya Keller, Maja Xhemaili-Luthiger und Lesley Zellweger, der Schweizer Mathias Reiser sowie weitere Künstler und Künstlerinnen aus insgesamt fünf Nationen auf der Bühne. Harmonisch fliessen Ton- und Lichtdesign ineinander über. Tolle Regieeinfälle, wie die Quasimodo motivierenden Steinfiguren, sorgen im Publikum für Unterhaltung.

Quasimodo, beobachtet von Esmeralda (links), unter den Steinfiguren.
Wie schon im «Dällebach-Kari» und in «Mary Popins» ist die Choregrafie auch im «Glöckner» Weltspitze. Es macht grossen Spass, den koordinierten Bewegungen und Tanzeinlagen der Sängerinnen, Sängern und beiden Swings zuzuschauen. Der Choreograf, Jonathan Huor, ist in den Bereichen Musical und Tanz eine internationale Grösse. Er arbeitet seit langem mit Pink, Alicia Keys, Lang Lang sowie vielen anderen Stars zusammen und fliegt für seine ausverkauften Workshops rund um die Welt. Zuletzt hat er in Basel für den ESC choreografiert.
Erinnerungen an «Mamma Mia»
Am Thunersee war Huor bereits 2018 für die Dialektfassung des Erfolgsmusicals «Mamma Mia» engagiert. Das einfache, eher technische Bühnenbild sowie die vielen Kostüme bringen zusätzlich Spannung ins Geschehen. Ein imposanter Glockenturm, ein gotischer Wasserspeier und mehrstöckige Gerüste bilden eine wandelbare Spielfläche, kreiert von Stephan Prattes, der am Thunersee bereits für «Mamma Mia» das Bühnenbild verantwortet hatte.
Kostümbildnerin Irina Hofer setzt die auf der Bühne gezeigten gesellschaftlichen Gegensätze visuell um – mit nüchternen Farben für das Pariser Volk und farbenfrohen Designs für Esmeralda und die Gauklertruppe.

Die tanzende Truppe der Gauklerinnen.
Der Inszenierung des «Glöckners vom Thunersee» darf ohne Übertreibung als ein kulturelles Highlight des Sommer 2025 bezeichnet werden. Nachdenklich verlässt man als Besucher die Seebühne und fragt sich: Ist Quasimo ein Mensch oder ein Monster? Oder steckt vielleicht von beidem etwas in uns allen?
Titelbild: Esmeralda und Quasimodo unter den Steinfiguren. Alle Fotos PD/Thunerseespiele.
Vorstellungen bis am 23. August 2025
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