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Diego tritt ans Licht

Das Bündner Kunstmuseum räumt mit der Abwertung von Diego Giacometti als Möbelmacher und Gehülfen seines Bruders Alberto gründlich auf: Diego (1902 – 1985) war freischaffender Künstler, seine Arbeiten sind Kunstwerke.

Schon als Kind ist Diego Modell für seinen hochbegabten und geförderten älteren Bruder Alberto gesessen, später hat er sein Leben mit dem berühmteren Alberto in Paris geteilt, war wiederum Modell, vor allem aber auch Assistent, ein hochbegabter Kunsthandwerker, wenn es darum ging Albertos Gipsfiguren für den Bronzeguss vorzubereiten, die Bronzen zu patinieren. Diego hat selbst plastische Kunstwerke gemacht, gemeinsam produzierten beide Einrichtungs- und Dekorationsobjekte wie Tische, Vasen, Leuchten, die bis heute in Privathäusern, Restaurants (Kronenhallebar) und Museen geschätzt werden.

Ausstellungsansicht: Diego Giacometti im Atelier. 

In erster Linie waren sie – wie sich aus Briefen erschliessen lässt – ein symbiotisches Brüderpaar, das ab Mitte der Zwanziger Jahre bis zu Albertos Tod eng zusammen lebte und arbeitete, ein paar Jahre nur getrennt, als Alberto im letzten Augenblick das besetzte Paris Richtung Schweiz verlassen konnte, Diego indessen während der Kriegsjahre das Atelier bewohnte und bewachte und selbstverständlich auch darin arbeitete. Nach dem Tod Albertos 1966 in Chur ging Diego nach Paris zurück und rettete die Plastik Lotar III vor dem Austrocknen und Verbröckeln, bevor er zur Trauerfeier zurück in die Heimat fuhr.

Console Hommage à Böcklin, 1978. Detailansicht

Diese Geschichten hat Casimiro Di Crescenzo dank umfangreicher Recherchen im Nachlass der Giacometti für das Begleitbuch zur Ausstellung verfasst. Briefzitate erhellen Fakten über einzelne Werke und Emotionen im Austausch der Familienmitglieder.

Die Familie Giacometti, von links: Alberto, Bruno, Vater Giovanni und Mutter Annetta, vorne Diego und Ottilia. Foto: Andrea Garbald, 1909

Bekannt ist, dass Diego schon als Kind darunter litt, dass ihm Mutter Annetta kaum Beachtung schenkte, auch ein von ihm provozierter Unfall mit einem Häcksler änderte daran nichts. Annetta hielt die Familie zusammen, wollte aber nie etwas von den Partnerinnen ihrer längst erwachsenen Söhne wissen, unverheiratet hatten sie Hausverbot in Stampa.

Couple, Bronze o.J.

Die Legende sagt, dass Diego erst nach dem Tod seines Bruders eigenständig zum erfolgreichen Kunsthandwerker und Designer geworden sei. Mit der Ausstellung Diego Giacometti hat das Bündner Kunstmuseum, welches eine umfangreiche Sammlung von Werken der Giacometti besitzt, ihm nun den Status als Künstler gegeben. Denn der Schatten Diego hat dem Grosskünstler Alberto nicht nur zugedient, sondern schon früh ein eigenständiges Werk geschaffen. Beispielsweise mit dem Kopf einer Löwin, den er 1935 aus Serptentin gemeisselt hat. Oder mit der Bronze-Löwin von 1931, einem formvollendeten Werk.

Console l’arbre de vie, um 1978; darüber zwei Wandleuchten mit je einer Eule, um 1968 

Die Ausstellung in Chur haben Casimiro Di Crescenzo, Giacometti-Forscher, und Stephan Kunz, Museumsdirektor, kuratiert, nachdem jahrelange Recherchen vorangingen. Denn was nach Diegos Tod in dessen Atelier war, wurde in Kisten verpackt im Musée des Arts Décoratifs deponiert. Hier konnten die beiden Diego-Forscher suchen und finden, wählen aus über 500 Objekten, Bauteilen und Modellen. Fertige Möbel sind in Privatbesitz.

Applique au panthère, Bronze, o.J.

Hellblau hat der Künstler Vaclav Pozarek als Gestalter einen Weg der Präsentation gefunden: Mitten im grossen Raum steht eine Sitzbank mit Metallfüssen auf einem hellblauen Podest, vielleicht sind Sie im Kunsthaus Zürich schon darauf gesessen, an der Wand gibt es ein Foto von Diego im Atelier, hängend oder ebenfalls auf hellblauem Podest Modelle für die Beleuchtung im Musée Picasso in Paris. Das war Diegos letzte grosse Arbeit, die Einweihung 1983 hat er nicht mehr erlebt. Diego Giacometti hat seine Werke jeweils nur mit Diego signiert. Ein Hinweis auf die Eigenständigkeit oder auch Rücksicht auf den geliebten und berühmten Bruder.

Eines der blauen Regale mit Bauteilen und kleinen Figuren

Treppauf geht es zu Arbeiten, von denen wohl einige noch nie ausgestellt worden sind: In Regalen – hellblau – liegen und stehen kleinere und grössere Skulpturen und Objekte, eine Art Menagerie: Eulen und Löwen, Füchse und Mäuse faszinieren das Auge der Besucher, auch kleine Menschenfiguren, angelehnt an ägyptische und etruskische Kunst, sind ausgelegt.

Autruche, Bronze und Straussenei, o.J.

In seinen unsteten Jahren, nach dem Versuch, als Unternehmer und Handlungsreisender eine Existenz zu finden, war Diego Giacometti auch nach Ägypten gelangt und blieb zeitlebens von der Sphinx tief beeindruckt. Obwohl er in Städten lebte, später Jahrzehnte in Paris verbrachte, war ihm die Natur mit Bäumen und Tieren eine Herzensangelegenheit.

Loup, Gips, o.J.

Diese Tierwelt findet sich wieder in Bronze an Leuchten, Tischbeinen, Türgriffen oder Kaminböcken. Während des Kriegs teilte ein Fuchs mit Diego das Leben im Atelier, aber als Alberto zurückkam, musste das nicht zähmbare und streng riechende Haustier weg. Zum 50. Geburtstag machte Diego für den älteren Bruder einen fünfarmigen Kerzenständer, dominiert von zwei Pferdeköpfen, klein und diskret hat er im Sockel einen Fuchs eingebaut.

Unter Giovanni Giacomettis Engadiner Panorama auf hellblauen Bodenplatten: Tische von Diego, im Hintergrund zwei Leuchten

Die einzigartige Retrospektive setzt sich im Obergeschoss der Villa Planta fort, sozusagen bei der Familie, bei Vater Giovanni Giacometti, bei Bruder Alberto und Zeitgenossen: Tische, Stühle, Konsolen, Leuchten, Kerzenständer und weitere Einrichtungsgegenstände werden zusammen mit Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen von Giovanni und Alberto Giacometti gezeigt – oft auf hellblauen Podesten, so dass man sich nur wenig bücken muss, um die manchmal mit Humor in die Gussgestelle eingebrachten Füchse, Hirsche oder Frösche, manchmal sind es auch Fabelwesen genauer zu sehen.

Serre-livres avec taureau, Gips o.J.

Im Treppenhaus vor den Sammlungsräumen fliegen Diegos Oiseaux, drei von vier Gips-Vögeln, grausliche Harpyien mit zwei Köpfen wie aus einem Albtraum, einst für die Salonecken eines Freunds geschaffen.

Oiseau, Gips, Draht Fasermasse, 1942. Drei dieser furchtbaren Vögel hängen im Treppenhaus der Villa Planta.

Der erstmals in einem Kunstmuseum gezeigte grosse Querschnitt durch Diego Giacomettis Werk, wird ergänzt mit Dokumenten und Fotos, die seine Arbeitsweise erschliessen. Jedes Stück ist ein Original, obwohl Diego international grossen Erfolg hatte, hatte er nie Interesse an industrieller Serienproduktion. Er war sein Leben lang ein unabhängiger Künstler, ein Plastiker der Moderne, sichtbar dank des Bündner Kunstmuseums.

Ausstellungsansicht im Erweiterungsbau: Foto aus dem Atelier in Paris, Sitzbank, Modelle von Laternen und einem Kronleuchter für das Musée Picasso

Bis 9. November

Titelbild: Console: La promenade des amis. (Detailansicht) Foto: Cornelia Metzler
Fotos: Bündner Kunstmuseum, Cornelia Metzler, Reto Hänny
Alle Werke und Porträtbilder Diego Giacometti: © Pro Litteris, Zürich

Hier finden Sie Informationen für Ihren Ausstellungsbesuch
Publikation: Diego Giacometti. Hrsg. von Casimiro Di Crescenzo und Stephan Kunz, Bündner Kunstmuseum Chur und Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich. 2025

 

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