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Der lange Weg zum Frauenstimmrecht

Im «Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung» in Worblaufen, kurz «Gosteli-Archiv» genannt, blickt man optimistisch in die Zukunft. Die vor 43 Jahren von der Berner Frauenrechtlerin Marthe Gosteli gegründete Institution wird seit vier Jahren von der öffentlichen Hand unterstützt und erhält nun einen dringend benötigten Erweiterungsbau.

Auf einem Rundgang durch das alte Gebäude geben die Co-Leiterinnen Simona Isler und Lina Gafner Auskunft über den Auftrag und die Bestände: Das Gosteli-Archiv sammelt Quellen zur Frauengeschichte, konserviert diese und macht sie für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Archiv ist von nationaler Bedeutung. Die acht Mitarbeiterinnen inventarisieren eingehende Nachlässe von Frauen, beraten Forschende bei ihren Recherchen und vermitteln das Wissen an ein breites Publikum. Angeboten werden unter anderem auch Workshops für Schulklassen.

Marthe Gosteli wurde 1917 als Tochter von Landwirt Ernst Gosteli und von Johanna Ida Gosteli-Salzmann geboren. Sie wuchs auf dem Bauernhof ihrer Eltern in der Gemeinde Ittigen auf und besuchte nach der obligatorischen Schulzeit ein Pensionat in Neuenburg sowie die Höhere Töchterschule in Bern. Sprachaufenthalte führten sie in die Westschweiz und nach London. Von 1949-1962 war sie Leiterin der Filmabteilung bei der amerikanischen Botschaft in Bern tätig.

Marthe (Mitte, mit Puppe) als Kind, gemeinsam mit ihrer Mutter und der älteren Schwester (rechts).

Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht

Nach dem Tod des Vaters verwaltete sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester das Gut in Worblaufen. Bei Verhandlungen mit den Behörden wurde ihr bewusst, dass Frauen in der Schweiz nichts zu sagen hatten, weil ihnen die politischen Rechte fehlten. Sie beschloss, sich für die Sache der Frauen zu engagieren und trat damit den langen Weg zum Frauenstimmrecht an: 1953 wurde sie Vorstandsmitglied beim Berner Frauenstimmrechtsverein. Von 1964-1968 amtierte sie als dessen Präsidentin. Danach präsidierte sie von 1970-1971 die Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenvereine für die politischen Rechte der Frau.

Marthe als Mitarbeiterin der amerikanischen Botschaft

Von 1967-1971 war sie Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF). Gosteli vertrat den BSF in verschiedenen eidgenössischen Kommissionen. 1982 gründete sie die Gosteli-Stiftung und errichtete auf dem Gut ihrer Eltern das «Archiv zur Geschichte der Frauenbewegung». Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Für ihr Engagement wurde Marthe Gosteli mit dem Trudy-Schlatter-Preis (1989), der Medaille der Burgergemeinde Bern (1992) und dem Ehrendoktorat der Universität Bern (1995) ausgezeichnet. Im Jahr 2000 gab sie das Buch «Vergessene Geschichte – Histoire oubliée» über die Geschichte der Schweizer Frauenbewegung von 1914 bis 1963 heraus. Die berühmte Frauenrechtlerin blieb Zeit ihres Lebens ledig und starb 2017 im Alter von 99 Jahren.

Marthe Gosteli in ein Buch vertieft. Foto Elsbeth Boss.

Das nach ihr benannte Archiv aber existiert noch immer und ist zu einem anerkannten Zentrum für die Erforschung der Frauenbewegung geworden. Es steht Forschenden, Wissbegierigen und Neugierigen offen. Die Archivalien unterliegen, abgesehen von einigen Ausnahmen, keiner Schutzfrist und können frei eingesehen werden. Für Bestände, die einer Schutzfrist unterliegen, kann ein Einsichtsgesuch gestellt werden.

Wie das Archiv entstand

Während vieler Jahre sammelten Frauenorganisationen und vielseitig engagierte Frauen in der Schweiz umfangreiches Archivmaterial, das nicht in die staatlichen Archive aufgenommen wurde. Der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF, heute Alliance F) führte eine schweizweit einmalige Bibliothek sowie eine Broschürensammlung. Die grossen Frauenverbände planten ein gemeinsames Frauenarchiv mit einer Dokumentationsstelle und einer öffentlichen Bibliothek, doch es fehlte an finanziellen Mitteln.

Im Archiv befinden sich auch Werbeflyer gegen die Einführung des Frauenstimmrechts.

Marthe Gosteli erlebte, wie viel historisches Material von Frauen mangels Platz einfach entsorgt wurde. Mit privaten Mitteln gründete sie ihr Archiv: Im Auftrag des BSF setzte sie sich für die Sicherung von Beständen über den Kampf der Frauen ein und beherbergte das Material in ihrem Privathaus. Um das Archiv langfristig zu sichern, gründete sie 1982 die Gosteli-Stiftung. Die Bibliothek des BSF und eine von Agnes Debrit Vogel und Gertrud Lüthardt angelegte Sammlung biografischer Notizen gelangten ebenfalls in die Obhut von Marthe Gosteli.

Nachlässe berühmter Frauen

Das Archiv beherbergt heute zahlreiche Nachlässe von berühmten Frauen der Schweizer Geschichte, darunter zentrale Figuren der Frauenbewegung, Politik, Kultur und Gesellschaft. Dazu zählen rund 500 Nachlässe und Organisationsarchive, welche Frauenbiografien aus mehr als 150 Jahren Schweizer Geschichte abdecken – darunter Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen sowie engagierte Ehrenamtliche. Die Dokumente bieten einen einzigartigen Einblick in die Rolle und die Errungenschaften von Frauen in der Schweizer Gesellschaft. Einige Beispiele:

Archivschachteln mit Zeitungsartikeln über Elisabeth Kopp-Iklé.

Elisabeth Kopp-Iklé: Erste Bundesrätin: Das Archiv enthält Zeitungsartikel aus ihrem Leben. Wie Marthe Gosteli engagierte sich auch Elisabeth Kopp ab 1957 für die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen, insbesondere für das Frauenstimmrecht. In den 1960er/1970er-Jahren war sie Präsidentin des Zumiker Frauenvereins und Vorstandsmitglied der Zürcher Frauenzentrale.

Emilie Gourd: Eine der wichtigsten Wegbereiterinnen der Schweizer Frauenbewegung. Ihr Nachlass umfasst persönliche Dokumente und Schriftverkehr.

Helene von Mülinen: Frühe Frauenrechtlerin und Gründerin des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht. Im Gosteli Archiv befinden sich Briefe, Manuskripte und Vereinsunterlagen.

Gertrud Heinzelmann: Engagierte Aktivistin für das Frauenstimmrecht. Ihr Nachlass dokumentiert die politischen und persönlichen Seiten ihres Engagements.

Jeanne Eder-Schwyzer: Chemikerin und führende Persönlichkeit der internationalen Frauenbewegung. Zahlreiche Dokumente, Fotos und Briefe sind archiviert.

Marga Bührig: Theologin.

Katharina von Arx: Journalistin, Autorin, Künstlerin.

Elisabeth Feller: Unternehmerin.

Weitere im Archiv vorhandene Nachlässe stammen von der Schriftstellerin Ruth Mayer und von der Berner Jugendanwältin Marie Boehlen.

Finanzielle Unsicherheit blieb

Mit den Jahren wuchs die Sammlung der Dokumente. Das Archiv wurde immer bekannter und bedeutender. Marthe Gosteli sensibilisierte die Öffentlichkeit dafür, wie wichtig die Geschichte der Frauen in der Schweiz ist. Doch die Unsicherheit über die Zukunft des Archivs blieb. Die finanziellen Mittel von Marthe Gosteli neigten sich dem Ende zu.

Marthe Gosteli.

Als die Stifterin 2017, kurz vor ihrem 100. Geburtstag starb, stand ihr Lebenswerk vor der Existenzfrage. Dank dem grossen Engagement von Mitarbeiterinnen, Stiftungsrat und Sympathisantinnen aus Wissenschaft und Politik erlangte das Archiv schliesslich einen neuen Status: Es wurde als Forschungsinstitut von nationaler Bedeutung anerkannt und wird seit 2021 subsidiär vom Bund und vom Kanton Bern finanziell unterstützt. Auch die Burgergemeinde Bern, die Standortgemeinde Ittigen sowie eine Vielzahl von Spenderinnen und Spendern tragen zur Finanzierung bei. Seit seiner Rettung widmet sich das Gosteli-Archiv verstärkt dem Ausbau seiner Dienstleistungen und Kapazitäten.

«Wir sind euer Archiv»

Am 14. Juni 2023 lancierte das Gosteli-Archiv das Projekt «zusammenfrauen», um eine breite Öffentlichkeit über die Arbeit des Archivs zu informieren und für die Relevanz von Frauengeschichte zu sensibilisieren. Die Botschaft an engagierte Frauen und Aktivistinnen lautete: «Wir sind euer Archiv!»

Auch die Handbibliothek des Archivs platzt aus allen Nähten.

Das Herzstück des Projekts bildet die Webseite www.zusammenfrauen.ch. Hier sind Erfolgsgeschichten der schweizerischen Frauenbewegungen zu lesen. Die Geschichten erzählen davon, wie Frauen erfolgreich sind, wenn sie über Gräben hinweg zusammenarbeiten und sich miteinander solidarisieren, in Themen wie politische Rechte, Zugang zum Sport, lesbische Liebe, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Lohn für Sorgearbeit, soziale Sicherheit, das Recht auf Abtreibung, Schutz vor Gewalt. Diese und weitere Anliegen beschäftigen Frauen seit langer Zeit.

Erweiterungsbau geplant

In der alten Scheune sind wichtige Archivalien untergebracht.

Aktuell platzt das Gosteli-Archiv aus allen Nähten. Die Räume für Archivmaterial sind randvoll, die klimatischen Bedingungen im Aussenmagazin prekär. Aus diesen Gründen und auf der Grundlage einer Nutzungsstudie hat der Stiftungsrat im Herbst 2023 beschlossen, die Planung eines Erweiterungsbaus an die Hand zu nehmen. Ab Sommer 2024 bereitet der dafür eingesetzte Bauausschuss gemeinsam mit externen Expertinnen weitere Schritte vor, um eine zukunftstaugliche Archivumgebung zu planen und umzusetzen.

Illustration der als Magazin neu geplanten Scheune.

Die neuen Magazinräume sind unterirdisch geplant. Das Gelände des Gosteli-Archivs soll mit dem Bauprojekt offener gestaltet werden und so auch für eine breitere Bevölkerung einladend wirken. Inzwischen haben drei Architektenteams im Rahmen eines Studienauftrags Entwürfe erarbeitet, von denen ein Projekt von einer Jury prämiert wurde. Die Gemeinde Ittigen unterstützt das Bauprojekt mit rund 200’000 Franken. Bis zum 7. November ist im Gemeindehaus Ittigen eine Ausstellung über das Bauprojekt zu sehen.

Stimmen zum Projekt

Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP), Präsidentin des Stiftungsrats der Gosteli-Stiftung, stellte vergangene Woche auf einer Vernissage das Siegerprojekt vor. Foto: Tabea Fröbel.

Auf einer Vernissage äusserte sich Gemeindepräsident Thomas Stauffer erfreut über das Bauprojekt, das Ittigen als Standort einer wichtigen Forschungsinfrastruktur stärken und einen Mehrwert für das Quartier Altikofen bringen wird. So werden der lokalen Bevölkerung nach Realisierung der Umgestaltung und eines Ersatzneubaus ein Mehrzweckraum und grosszügige Grünflächen zur Mitbenutzung zur Verfügung stehen. Die neuen Räumlichkeiten werden auch für Schulklassenbesuche, Führungen und kleine Ausstellungen erweiterte Möglichkeiten bieten, die der breiten Bevölkerung zugutekommen.

Peter Ernst, Bauberater der kantonalen Denkmalpflege, zeigte sich ebenfalls
überzeugt vom prämierten Projekt: «Der Ersatzneubau fügt sich in die Logik des historischen Ensembles ein. Seine Architektur wirkt einfach und zurückhaltend, ist zugleich von Wertigkeit geprägt. Der Neubau tritt so als Wegbegleiter und Ergänzung zum historischen Wohnstock auf».

Titelbild: Das Hauptgebäude des Gosteli-Archivs in Worblaufen. Fotos PS und ZVG.

Mehr über das Archiv, dessen Dienstleistungen und Veranstaltungen unter diesem LINK

Gosteli Archiv

Artikel (14. Januar 2018) von Maja Petzold über die Gosteli-Biografie von Franziska Rogger:

Mit Beharrlichkeit für Frauenrechte

 

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