Eine Studie im Auftrag von Senesuisse schlägt den freien Markt als Geschäftsmodell in der Altenpflege vor
Wie es wohl wird, das abhängig werden. Wir brauchen irgendwann Hilfe – fürs Putzen der Wohnung, für die Pflege bei einer Krankheit, für die Fahrt zum Arzt, später auch fürs Einkaufen, fürs Kochen und und und. Wir fragen uns, ob wir das bezahlen können und wer es uns anbietet, oder auch wann wir ins Heim müssen. Bei Besuchen in einem Alters- oder Pflegeheim sehen wir höchstens, was wir nicht wollen, beispielsweise Mehrbettzimmer, Essen nach Stundenplan, Wecken nach Pflegerhythmus.
Daniela Tenger stellt die Studie Fluid Care bei der Senesuisse-Tagung im GDI vor
Die starre Planung in der Altenpflege ist ein Auslaufmodell. Dass auch pflegebedürftige Menschen möglichst autonom entscheiden sollen, was sie brauchen, beschäftigt die Branche. Nun gibt es eine neue Studie, welche das Modell Fluid Care, als Antwort auf die Wohlfahrtsstruktur der vergangenen Jahrzehnte lanciert. Bestellt hat sie Senesuisse, der Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz, erstellt hat sie das Gottlieb Duttweiler Institut GDI, wo sie im Rahmen einer Tagung rund 300 Fachleuten aus der Heim-Branche vorgestellt wurde.
Betreuung auf Bestellung statt Rundumbetreuung
Die Babyboomer oder auch 68er, die jetzt ins Rentenalter kommen und als aktive Pensionierte ihr Leben gestalten, sind autonomes Handeln gewohnt und lehnen eine normierte Versorgung ab. Die immer differenzierteren Ansprüche der Alten und Pflegebedürftigen müssen aber auch finanzierbar für alle sein. Die Studie Fluid Care: Nachfragemarkt versus Wohlfahrtsstruktur von Marta Kwiatkowski und Daniela Tenger vom GDI zeigt mögliche Lösungen auf. Heute wird der Bedarf an Pflegeplätzen anhand der Bevölkerungsstruktur geplant. Die Folge: Hunderte von leeren Betten, weil die Leute nicht so pflegebedürftig werden, wie geplant. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit BAG steigt die Anzahl gesunder Lebensjahre, neunzig Prozent der 80 bis 85jährigen leben heute zuhause, Tendenz nach oben. Aber im hohen Alter wird das Risiko immer grösser, hilfsbedürftig zu werden. Die Ziele der staatlichen Gesundheitspolitik, bei der Senesuisse-Tagung von Verena Hanselmann vom BAG vorgestellt, sind
- – eine gesündere Lebensweise fördern, damit Alte länger zuhause leben;
- – eine koordinierte Versorgung zwischen ambulant und stationär, um die Lebensqualität zu erhöhen und die Angehörigen zu entlasten;
- – genug Personal und neue Versorgungsmodelle bereitstellen;
- – eine finanzierbare Langzeitpflege organisieren.
Vor allem im Bereich der Demenzpflege gebe es noch viel zu tun, betont Hanselmann. Da wird Fluid Care wenig helfen, es befasst sich vielmehr mit den „ausdifferenzierten Bedürfnissen“ welche heutige und künftige internetgeübte Alte haben. Im Zentrum der Studie steht der Gedanke, dass es nicht darum geht, alterstypische Dienstleistungen bereit zu stellen, sondern jeweils das genau Richtige für die Lebenssituation. Wegen der Überalterung und der steigenden Mobilität (Angehörige sind weit weg) fehlen jene, die sich um die Alten kümmern, was nur heissen kann, vermehrt auf technologische Hilfen, auch Roboter zu setzen.
Der Dienstleistungsladen mit dem Fluid-Care-Konto des Kunden setzt autonomes und verantwortungsbewusstes Handeln voraus
Heute geht viel Pflege- und Betreuungszeit ab, weil bei der Spitex und im Heim eine präzise Aufteilung des Aufwands gefordert ist, also viel Zeit für Administration. Es gilt zu entscheiden, was Betreuung und was Pflege ist, also ob der Klient (Betreuung) zahlt oder die Krankenkasse (Pflege). So wie sich in der Gesellschaft die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit oder auch öffentlich und privat auflösen, sind im konkreten Alltag die Binarität zwischen Staat und Individuum, zwischen ambulant und stationär, zwischen traditionell und modern aufzuheben, sagte Andrea Kofler von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZhaW, die beim Expertenworkshop zur Studie im GDI mitgewirkt hatte.
Paradigmenwechsel in sechs Schritten
In der Studie Fluid Care, die man gegen Unkosten bestellen oder als pdf herunterladen kann, sind die Kennzahlen von sieben vergleichbaren Ländern, unter anderen Spanien oder die Niederlande versammelt und gewichtet. Ausserdem hat sich der Expertenworkshop mit den hiesigen Verhältnissen auseinandergesetzt. Den Paradigmenwechsel von starren Systemen zu flexiblem Betreuungs- und Pflegeangebot wird in sechs Schritten aufgezeigt.
- – konsequente Ausrichtung auf den Konsumenten, der selbst bestimmen will;
- – Grenzen zwischen Pflegen und Unterstützen abbauen (neue Finanzierungsansätze, neue Wohnumfelder);
- – Gesundheitsvorsorge und Alltagsbetreuung vernetzen und die Finanzierung überregional regeln;
- – Das Fluid-Care-Konto als erweitertes Patientendossier schaffen, bei dem der alte Mensch über die Datenhoheit verfügt;
- – Formen fürs individuelle Leben zwischen Heim und Daheim je nach aktuellem Bedarf anbieten;
- – Individualisierung muss für alle gelten, also neue Finanzierungsansätze schaffen.
Es ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung voranschreitet, so dass bedarfsgerechte Dienstleistungen über digitale Plattformen geordert werden können. Die Rolle des Staats in einem solchen Konzept ist es nicht, Hardware (Zimmergrösse etc) vorzugeben, sondern Rahmenbedingungen für Software zu schaffen, welche finanzierbare On-demand-Dienstleistungen ermöglichen.
Im Streitgespräch, moderiert von Fernsehfrau Katja Stauber: von links Endo Anaconda, Peter Gross, Clovis Défago, Reimer Gronemeyer
Wie so ein Modell funktionieren könnte, stellte Martin Leser von Curaviva vor: im Alter zügle er dereinst in ein 80+-Appartement mit Pflege und Betreuung, ein Gesundheitszentrum mit Arzt und Pflegebetten sei in der Nähe. Im Quartierzentrum finde er Unterhaltungs- und Bildungsangebote. Weil die Leute länger mobil blieben und ambulante Dienste beanspruchten, werde das System 20 bis 30 Prozent billiger als der Eintritt ins Altershospiz.
Die Studie Fluid Care kann hier kostenlos heruntergeladen werden
Die schöne neue flexible und digitale Zukunft dank Fluid Care wurde bei der Tagung auch lebhaft kritisiert. Überraschungsgast Endo Anaconda (Stiller Has) brachte bei einem Podiumsgespräch mit Senesuisse-Präsident Clovis Défago, Soziologe und Altersforscher Peter Gross sowie dem Demenzexperten Reimer Gronemeyer von der Universität Giessen, reichlich Turbulenz in die Runde, als er erklärte, es gehe bei jedem Modell zuerst um die Kosten, erst danach um die ethischen Fragen. Das hörte Senesuisse-Präsident und Unternehmer Défago ungern, er vierwies auf die guten Löhne und eher bescheidenen Gewinne in der Branche, während Hochschullehrer Gronemeyer auf die Problematik der Dropouts in einem radikalisierten Markt (Demenzdorf analog zum Aussätzigenlager) hinwies. Mit dem Montesquieu-Satz, im Alter werde aufstehen schwieriger, sterben dagegen leichter, fand Peter Gross das Schlusswort.