StartseiteMagazinKolumnenDas "liebe Tagebuch"

Das «liebe Tagebuch»

Ausgesetzt, preisgegeben, multimedial: Das Private beziehungsweise Intime ist so öffentlich geworden wie noch nie.

Gottfried Keller schrieb im „Heumonat“ 1838 (er ist 19 Jahre alt): „Ein Mann ohne Tagebuch ist das, was ein Weib ohne Spiegel ist. Dieses hört auf, Weib zu sein, wenn es nicht mehr zu gefallen strebt und seine Anmut vernachlässigt …Es wird seiner Bestimmung gegenüber dem Manne untreu … Jener hört auf, ein Mann zu sein, wenn er sich selbst nicht mehr beobachtet, Erholung und Nahrung immer ausser sich sucht, er verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter und wenn er seine geistige Selbständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf“.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter der Renaissance, suchte und fand manch einer leichthin Gelegenheiten und Möglichkeiten, um sich den privaten Freiheiten zu widmen, die man sich heimlich nahm. Doch wohin mit all dem, was man erlebte? Was einem passierte, was mit einem geschah und was man unbedingt verheimlichen wollte, vielleicht gar verstecken musste? Wohin mit den Betrügereien und dem Schwachgewordensein? Mit den kleinen Gewinnen und Niederlagen, den Verlusten und Demütigungen, dem Glücklichen, den Selbsterkenntnissen, dem Erträumten?

Ins Tagebuch! Es wurde zum Beichtstuhl- und zum Klagemauer-Ersatz, zum Lagerhaus von Dummheiten und Fehlern, von Gedanken und Ideen, von Verfehlungen und den verpassten Chancen, den Gedanken, Gefühlen und dem Anvertrauten. Zu dem, was sich nicht reimt, und vor allem was keinen Zweiten etwas anging.

Bei Amiel nachschauen!

Berühmt wurde der Schweizer Literaturkritiker und Philosoph Henri-Frédéric Amiel mit seinem monumentalen Tagebuch (Journal intime, ca.17 000 Seiten), das man nach seinem Tod im Jahr 1881 entdeckte. Da ist zu lesen: „Ich habe sie (diese Seiten) geschrieben zu meiner Beruhigung und als Stütze der Erinnerung. Die Wahrheit ist ihre einzige Muse, ihre einzige Rechtfertigung, ihre einzige Aufgabe. Als psychologisches und biographisches Register werden sie mir einmal im Alter wichtig sein, wenn ich alt werde; jetzt schon sind sie für mich wertvoll als Vertraute und als Ruhekissen.»

Die moderne Gattung des „Journal intime“ als Bekenntnis -Tagebuch ist von anderer Art. Grenzenlos, schamlos. Jede Art von Ich-Kult bis runter zum Persönlichkeitsschwund wird es nun im 21. Jahrhundert unverfroren und ohne genierlich zu sein aus der untersten Schublade herausgeholt, freigestellt und dem Buchdruck zur Veröffentlichung übergeben.

Was man vor Jahrzehnten dem „lieben Tagebuch“ anvertraute, um es nach den fast täglichen Eintragungen in einer abschliessbaren Schublade verschwinden zu lassen, wird heute „mit nichts als die Wahrheit“ den Verlagen angeboten.

Allein in den letzten Jahren, Jahrzehnten kamen zahlreiche so genannte Autobiografien auf den Büchermarkt. Verfasst von Frauen und Männern, die offensichtlich von sich überzeugt und gierig darauf waren, ihr Leben, besser ihr Dasein, öffentlich zu machen.

So erzählt ausführlichst eine Autorin von einem familiären Tabu, das „über ein viertel Jahrhundert auf seine „Aufarbeitung“ durch sie warten musste. Eine andere Autorin bekennt sich seitenlang dazu, Sex über alles zu lieben und wie gern sie sich ihm experimentierfreudig hingibt. Eine andere beschreibt minutiös den „Horror» ihrer Tumorerkrankung, den sie in einer Klinik erlebte. Drei Beispiele. Und exemplarisch so weiter.

Nicht nur von Frauen, die Männer sind auf diesem Gebiet mindestens genauso ergiebig. So schildert ein Scharfschütze, der in einer US-Elite-Truppe im Irak seinem Land „diente“, wie man am besten den Feind bekämpft und am sichersten mit ihm umgeht. Einer erzählt von sich als Schulschwänzer, Mädchenabgreifer, Brandstifter, Ladendieb, Grabräuber und als der Kerl mit der „grossen Klappe“. In einem weiteren Buch ist zu lesen, er sei schon als kleiner Junge einer Hure hörig geworden, habe sich fast eine tödliche Erkrankung zugezogen, danach in den europäischen Bordellen nach ihr gesucht, ohne sie je wieder gefunden zu haben.

Weltweit präsentieren (so heisst das heute) unzählige Menschen mit den Buchstaben, die ihnen zur Verfügung stehen, ihr tägliches Leben. Nunmehr jedoch nicht in Tagebüchern, sondern im Internet, in den (sagt man) sozialen Netzwerken. Ausgesetzt, preisgegeben, multimedial. Das Private beziehungsweise das Intime ist vor allem seit dem neuen Jahrhundert so öffentlich geworden wie nur was. Und ist jetzt im Netz.

PS: Gerade in diesen Apriltagen hat die EU beschlossen, den Umgang mit Daten neu zu regeln, damit die Persönlichkeitsrechte eines Nutzers geschützt und nicht verletzt werden.

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