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«Ihr seid die Letzten!»

Regisseur Milo Rau inszeniert in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich «Die 120 Tage von Sodom» mit Behinderten des Theaters Hora.

Kann man mit behinderten Schauspielern Pier Paolo Pasolinis Skandalfilm «Salo oder die 120 Tage von Sodom» auf die Bühne bringen? Darf man die Sauereien einer faschistoiden Gesellschaft durch Behinderte spielen lassen? Diese Fragen werden strittig bleiben. Massgebend ist jedoch, wie dieser Skandalstoff umgesetzt, präsentiert wird.

Pränatale Diagnostik im Zentrum

Milo Rau legt ein höchst beunruhigendes Stück über Totalitarismus, Gewalt und Diffamierung vor, ohne befürchtete voyeuristische Bedürfnisse zu befriedigen. Im Zentrum steht die Frage nach den Auswirkungen der pränatalen Diagnostik, die es ermöglicht, Ungeborene mit Down-Syndrom tot zu spritzen. Damit macht Milo Rau die Behinderung seiner Schauspieler zum eigentlichen Thema seiner Inszenierung, indem er prophezeit, dass künftig neun von zehn Eltern ihre behinderten Kinder abtreiben werden. «Ihr seid die Letzten!», lässt der Regisseur Robert Hunger-Bühler den Hora-Spielern zurufen. Diese Argumentation greift etwas kurz, verfehlt aber ihre Wirkung nicht.

Hochzeitsmahl mit Exkrementen (von links: Michael Neuenschwander, Nora Tosconi, Matthias Grandjean, Nora Badir, Julia Häusermann, Nikolai Gralak)

Pasolinis 1975 erschienener Schockfilm «Salo oder die 120 Tage von Sodom» ist die wohl umstrittenste Produktion der Filmgeschichte. Italienische Faschisten verschanzen sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im norditalienischen Salo und feiern Orgien, auf denen sie widerständige junge Menschen missbrauchen, foltern und umbringen. Milo Rau setzt noch einen drauf und lässt die jungen Opfer durch Hora-Darsteller auf einer Bühne mit Guckkasten-Theater, Abendmahltisch und Holzkreuz spielen. Unterstützt werden sie dabei durch Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles, die den Szenenverlauf kommentierend begleiten.

Lust an Tortur und Zuneigung

Gespielt werden reale Szenen des Pasolini-Films, die laufend simultan auf eine Grossleinwand übertragen werden und so die emotionale Wirkung verstärken. Ausgebreitet werden anarchische Lust an der Tortur, an Exkrementen, nackten Ärschen und Kreuzigung, aber auch Gefühlsschattierungen der Zuneigung und Liebe. Mit künstlichen Special-Effects wird das finale Gemetzel wie Augen ausstechen, Finger abhacken und ans Kreuz nageln gespielt, das kaum zu ertragen ist. Neben infernalen Auftritten gibt es auch berührende Momente wie die Sexszene von zwei Hora-Spielern, die nackt auf einer Matte liegend sich zärtlich lieben. Ein Hora-Spieler verrät, dass er kastriert ist und keine Kinder bekommen kann. Andere träumen von Hochzeit und Familiengründung.

Julia Häusermann als Jesus am Kreuz (Fotos: Toni Suter / T+T Fotografie)

Die Hora-Darsteller zeigen ein grossartiges Spiel. Mit unglaublichem Einsatz und grosser Begeisterung meistern sie ihre nicht einfachen Rollen. Sie vermitteln nicht den Eindruck, gegen ihren Willen für das Spiel instrumentalisiert worden zu sein. Mit von der Partie ist die mehrfach ausgezeichnete Hora-Schauspielerin Julia Häusermann, die eine reife und glaubwürdige Leistung ihres Könnens liefert. Unvergessen bleibt ihre Kreuzigung, die sie mit schmerzverzerrtem Gesicht über sich ergehen lässt. Lob verdienen auch die vier Darsteller aus dem Schauspielhaus-Ensemble (Dagna Litzenberger Vinet, Robert Hunger-Bühler, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch), die mit ihrem sensiblen Herantasten und Begleiten ein feinziseliertes Zusammenspiel mit den Behinderten ermöglichen. Dafür gabs am Premierenabend starken Applaus, der echte Betroffenheit spüren liess.

Weitere Spieldaten: 14., 20., 25. Februar; 1., 3., 5., 6., 8., 10., 12. März 2017

Spezielle Einführungen zum Stück

Am 14. Februar wird Michael Elber, der künstlerische Leiter des Theaters Hora, über die Zusammenarbeit mit Milo Rau und dem Schauspielhaus sprechen. Am 22. Februar wird Rolf Bossart, Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste im Departement „Darstellende Künste und Film“ und Mitarbeiter des von Milo Rau gegründeten IIPM – „International Institute of Political Murder“, über „Die 120 Tage von Sodom“ im Kontext von Milo Raus Theaterarbeiten sprechen

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