Ein Erlebnis, eine Beobachtung, ein Blick kann ein Gedicht anregen, was an drei Beispielen aufgezeigt wird.
Eduard Mörike ist zweifellos ein sehr einfühlsamer Dichter. Seine Gedichte etwa „Auf eine Lampe“ oder „September-Morgen“ sind zarte Stimmungsbilder, die er so notierte, als wären sie in Leichtigkeit vom Kopf in die Hand geflossen. In ihrer Schönheit überlebten sie den Tag. Generationen haben sie nachfühlend gelesen und auswendig gelernt. Wie konnte ein solch kleines, zartes Wortwunder entstehen? Es ist der Plötzlichkeit eines Einfalls und der lyrischen Gestimmtheit des Dichters zu verdanken. Unzählige Menschen erleben den grossartigen Moment, wenn die Sonne die Nebeldecke durchbricht. Aber sie sie vermögen nicht wie Mörike, den Augenblick eines September-Morgens in knappen Worten und Reimen zu verdichten:
Im Nebel ruhet noch die Welt, / Noch träumen Wald und Wiesen: / Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, / Den blauen Himmel unverstellt, / Herbstkräftig die gedämpfte Welt / In warmem Golde fliessen.
Der Dichter selber steht noch im Nebel. Ihm fällt die erste Zeile ein. Er weiss, dass bald die Sonne hereinbrechen wird und die Wälder und Wiesen in herbst-buntem Licht erstrahlen werden. Diesen magischen Moment hält das Gedicht fest und schenkt der Leserin und dem Leser ein neue, überraschende Bilder.
Alberto Nessi betrachtet Nelken (publiziert: NZZ 5. August 2017):
Im Herzen, mitten im Herzen, / zwischen Blütenblättern und -stengeln, / rot wie das Rot / des Hohlraums der Wünsche //
schweigt man und harrt – und hält / Worte zurück, wie wenn / man eine Frau sieht und ihr Geheimnis / betrachtet.
Nessi vergleicht die Nelken, die ihm ins Auge stechen in einem plötzlichen Geistesblick als ein Geheimnis, über das er nicht sprechen will. Im poetischen Augenblick geht der Gedanke über die realen Blumen hinaus, findet ein Bild, das offen lässt, wie es interpretiert werden kann. Das Bild selbst wird zum Geheimnis und zur gedanklichen Faszination. Verschiedene Deutungen werden möglich, sodass der Lesende selbst zum Dichter wird. Er beginnt sich Fragen zu stellen und ist dennoch nie ganz sicher, was der Autor sich vorgestellt hat. Was ist der Hohlraum seiner Wünsche? Ist es der erotische Blick, den der Mann auf die Frau wirft? Warum wird dieser Wunsch zu einem Geheimnis, über das Schweigen angesagt ist? In diesem Sprung von der schlichten Realität der tiefroten Nelken ins Offene der Imagination liegt der Reiz des Gedichts. Es wird mehrdeutig und fasziniert.
Ich stand mit einer alleinerziehenden Frau auf einem Weg. Sie erzählte mir von ihren Sorgen und ihrer Angst vor der Zukunft. Sie verdiene nicht einmal so viel, dass sie sich einmal ein würdiges Alter werde leisten können. Ein Milan kreiste in gelassener Majestät am Himmel und lenkte uns vom ernsten Gespräch ab. Nach dieser Betrachtung des leicht scheinenden Schwebens und der Verbindung zum Gespräch fiel mir das Gedicht „Milan“ zu.
Er schwebt in grossen Bögen, / in leichtem Auf und Ab, / mit sanftem Flügelschlag. / Er lässt sich fallen, ein / wenig treiben leicht im Wind. / Das grosse Spiel des / Lebens in den Lüften. //
Ihr zarter Blick, der seinen / Schwingen folgt, verrät, / wie gern sie sich in eine / weiche Wolke fallen liesse, / von fester Hand getragen.
Der Flug des Milans wäre in einem Prosatext viel ausführlicher, vielleicht sogar schöner zu beschreiben gewesen. Dazu bräuchte es nicht die Verknappung der Worte. Was das Gedicht zu sagen hat, findet sich in der zweiten Strophe. Es wird durch den realen Flug des Milans vorbereitet. Plötzlich findet die Einbildungskraft das offene Bild eines Wunsches, einer Sehnsucht, die ganz real klingt, aber vieles auf wunderbare Art offen lässt. Ist es die starke Hand eines Mannes oder geht es um die bessere Vorsorge durch den Staat? Warum sind alleinerziehende Mütter sehr oft Verliererinnen? Der magische Augenblick, in dem das Gedicht ins Offene findet, gibt ihm seine Strahlkraft.
Dieser Sprung ins Metaphorische gehört zur dichterischen Kunst. Es ist das „warme Gold“, in dem Eduard Mörike „die gedämpfte Welt“ fliessen sieht, es ist der „Hohlraum der Wünsche“ von denen Alberto Nessi schreibt oder der Wunsch nach der festen Hand, die trägt, in meinem Gedicht. Gedichte, die plötzlich einfallen, sind oft lesbarer, als konstruierte, abgehobene Wortgebilde. Sie ziehen die Lesenden in eine kleine Geschichte hinein.