„Maschinenzeit“ nennt die Fotostiftung ihre Ausstellung eines der wichtigsten Schweizer Fotografen des 20. Jahrhunderts.
„Darum lasset mich hinabsteigen zu den Rädern und Pleuelstangen, damit einer noch kommt, der ein Bild von ihrem Leben gemacht hat. Die Geschichte ist armselig an Illustrationen unseres technischen Zeitalters. Ich an meiner Stelle möchte die Ahnenreihe der ganz wenigen Künstler fortsetzen, welche der Geschichte der Technik durch ihre Bilder gedient haben.“
Das schreibt Jakob Tuggener zu einer Fotoserie über Dampfschiffe. Sein Emotionen packt er in Bilder von Menschen und Maschinen; ihn faszinieren die Errungenschaften der Technik, geradezu euphorisch beschreibt er Flugschauen oder Autorennen:
„Sie hätten erleben sollen, wie die Ungeheuer dahergerast kamen, ein Pfeil, ein Singen und Donnern; oh, es war überwältigend – kalt hat es über mein Herz gerieselt. Die Technik in grandioseste Poesie. Heroisch ist solch ein Sport, hinreissend und todesnah.“
Drehbank, Maschinenfabrik Oerlikon, 1949. © Jakob Tuggener-Stiftung
Tuggener ist einer der ersten Fotografen, der sich selbstbewusst als Künstler bezeichnet. Seinen Objekten nähert er sich kompromisslos subjektiv und versucht, das Emotionale sichtbar zu machen. Der Mensch bleibt im Zentrum, auch wenn er in den gigantischen Werkhallen neben den Werkstücken für Energiegewinnung oder Maschinenbau fast verschwindet. Aber Tuggener ist kein Arbeiterfotograf und ebensowenig ein Industriefotograf, auch wenn ihn Tempo, Grösse und Geräuschkulisse des Industriezeitalters immer wieder in ihren Bann ziehen. Seine Bildersprache hat nichts mit makelloser Ablichtung zu tun.
Die Industrie als grosses Thema ist aus dem Lebenslauf zu erklären: Jakob Tuggener (1904 bis 1988) absolviert eine Lehre als Maschinenzeichner bei Maag Zahnräder. Er wird in der Krise 1929 entlassen und kann in Berlin die bekannte Reimann Kunstschule besuchen, sich den Künstlerwunsch erfüllen. Nach seiner Rückkehr arbeitet er in der Maschinenfabrik Oerlikon MfO vor allem für die Hauszeitschrift Der Gleichrichter. Seinen Förderer und Mäzen findet er in Hans Schindler, einem Mitglied der Firmenleitung. Der Auftrag: Tuggener sollte der Teppichetage die Mitarbeiter in den Büros und die Arbeiter in den Werkhallen durch das Bild näher bringen. In der MfO galt noch das Ethos der Gründer, alle Beschäftigten vom Besitzer bis zum Boten seien Mitglieder einer grossen Familie.
Berti, Laufmädchen in der Maschinenfabrik Oerlikon, 1936. © Jakob Tuggener-Stiftung
Hans Schindler ist auf Arbeitgeberseite eine der treibenden Kräfte, die in den 30er Jahren den Ausgleich mit den Gewerkschaften der Maschinenindustrie suchen, konkret soll der Streikverzicht vereinbart werden. 1937 kann der Arbeitgeberverband der Maschinenindustrie ASM mit den Gewerkschaften, federführend ist der SMUV, das Friedensabkommen, das weit über den zweiten Weltkrieg hinaus immer wieder erneuert wird, unterzeichnen. Es könnte 2017 einen runden Geburtstag feiern, doch obwohl es international immer noch als Vorbild zitiert wird, spricht hierzulande kaum mehr jemand davon; und 2017 steht ohnehin im Zeichen der Reformation, der russischen Revolution und eines Einsiedlers aus der Innerschweiz.
Auf diesem Hintergrund gewinnen Tuggeners Fotografien eine Dimension, die er wohl nie in Erwägung gezogen hat: Durch Schindlers Aufträge, dessen Ziel Arbeitsfrieden und Streikverbot war, schuf der Fotograf passende Bilder. Aber Jakob Tuggener als Fotokünstler des Arbeitsfriedens zu bezeichnen, wäre so falsch, wie ihn einen politischen Fotografen zu nennen. In seinen Bilder steckt seine ureigene Subjektivität und Emotionalität, insofern ist er ein Dichter, der mit dem Fotoapparat Poesie macht. Er liebte die Menschen – egal ob im Luxus eines Ballsaals oder im Russ und Dreck einer Werkhalle, seine Bilder erzählen Geschichten: Er liess sich auf das ein, was er fand – ohne Kommentar, ohne politische Ideen, aber mit Gefühlen, die in ihm ausgelöst wurden.
Kraftwerk Grande Dixence, 1942. © Jakob Tuggener-Stiftung
Neunzig Prozent der an den Wänden der Fotostiftung gezeigten Bilder sind Vintage Prints, also Abzüge, die Jakob Tuggener selbst vergrössert hatte. Original sind auch die meisten Exponate in den Vitrinen – die Hauszeitschrift der MfO, Der Gleichrichter, die Fotobücher, allen voran Fabrik, Zeitungsausschnitte und Dokumente aus dem Archiv, etwa die handschriftliche Liste mit den 213 Einträgen der Filme, die der junge Tuggener sich bis zur Auswanderung nach Berlin angeschaut hatte, dazu Erinnerungsfotos aus Balthasar Burkhards Atelier, wo Tuggener den jungen Künstlerfreunden in den 60er Jahren seine Filme zeigte, die mehr von seinen Ideen, Emotionen und Vorlieben enthüllen.
Während sich Kurator und Experte Martin Gasser (seit 30 Jahren steht für ihn Tuggener im Zentrum seiner Arbeit) bei den Fotografien auf die Maschinen, Werkhallen und die Menschen, die den Fortschritt mit ihrer Arbeit ermöglichen, beschränkt, werden im Seminarraum einige von Tuggeners Stummfilmen gezeigt. Die Seemühle von 1944 erzählt mit expressionistischen Mitteln eine unheimlich-spannungsvolle Geschichte von einem Mann, der am Seeufer einen Schädel findet; daneben gibt es Filme von einem Flugmeeting einer Schiffahrt mit ausgiebigem Fokus auf die Pleuelstangen.
Doppelseite aus dem Fotobuch «Fabrik»: Püppchen mit Munition – eine rare Installation Tuggeners – und das Porträt eines Arbeiters. © Fotostiftung und Jakob Tuggener-Stiftung
Tuggener pflegte seriell zu fotografieren, mit Kamerastandorten wie für Filmaufnahmen. Beispielsweise die Bilder des Laufmädchens Berti vor der Shedhalle. In Serien hängen die Fotos nun auch in der Ausstellung, die Fotos zur elektrischen Energie von der Staumauer über den Kraftwerkbau bis zu Masten mit den Drähten, die im Nebel verschwinden. Oder jene vom Autorennen in Bern – Boliden der 30er Jahre, Zuschauermassen, schlanke Beine in Sandaletten, Rennfahrer in ihrer Montur, ein schönes Frauengesicht, Tempo und ausgelassene Stimmung, festgehalten im Augenblick des Kameraklicks.
Maria E. Tuggener ist die nächste Zeitzeugin ihres verstorbenen Manns und Verwalterin des Tuggener-Archivs
Und eben – die Maschinenzeit, jene Fotos, die Tuggener teilweise für sein gestalterisch epochales Buch Fabrik. Bildepos der Technikauswählte, veröffentlicht 1943 als eine Art Beitrag zum Reduitgedanken. Wer sich darauf einlässt, liest in den in einer expressionistischen Stummfilmästhetik assoziativ gereihten Bildern eine andere Geschichte: Tuggeners Begeisterung für den ungebremsten technischen Fortschritt hat durch den grossen Krieg, für den auch hierzulande mit Gewinn tödliche Waffen produziert wurden, einer realistischeren, skeptischeren Sicht Platz gemacht. Der Fotoband Fabrik, welchen Tuggener im Rückblick zu Recht als künstlerischen Erfolg betrachtete, wurde kommerziell zum Flop und verramscht. Zum Glück ist er heute in einem Reprint wieder greifbar.
Am 15. Dezember feiert die Fotostiftung eine Buchvernissage: Eine Box mit zwölf Buchmaquetten, die Tuggener noch geklebt hat, erscheinen gedruckt zusammen mit vierzehn Kurzfilmen auf DVD und einem Begleitband mit einem Nachwort von Maria E. Tuggener.
bis 28. Januar 2018
29. Oktober 11 Uhr: Tuggener-Filmmatinée im Kino Cameo, Winterthur
Weitere Informationen finden Sie hier.