StartseiteMagazinKulturWenn der Krieg alles zerstört

Wenn der Krieg alles zerstört

Jeder Krieg richtet unermessliche Zerstörungen an. – Wie kann unter solchen Umständen die Würde des Menschen aufrecht erhalten bleiben?

Betroffen und zutiefst berührt legen wir «Die Geschichte einer kurzen Ehe» von Anuk Arudpragasam aus der Hand. Dabei ist es nichts Neues, was wir dort lesen, im Gegenteil, oft genug präsentieren uns die Medien die grauenvollen Folgen der Kriege in dieser Welt. Und sagt man nicht, Bilder oder Videoaufnahmen würden die Schrecken am eindrücklichsten vermitteln? Dieses Buch beweist das Gegenteil. Der junge Autor führt uns vor, wie Mitgefühl, Fürsorge und Respekt die Würde der Menschen bewahren, auch in den unwürdigsten Momenten.

Anuk Arudpragasam tut es auf die einfachste Art und Weise: Er lässt uns den jungen Dinesh auf Schritt und Tritt begleiten, er lässt uns seine Gedanken und Gefühle verstehen und seine Erschöpfung erfahren. Als Lesende folgen wir dem jungen Mann auf Schritt und Tritt, der Autor beschreibt sein Tun und Treiben in schlichter, vollkommen nüchterner Sprache – die Wirkung überzeugt umso mehr.

Die Namen der Personen Dinesh, Ganga und ihr Vater Herr Somasundaram – nur die Drei tragen Namen in dieser Geschichte – deuten darauf hin, dass der Roman in Sri Lanka spielt, genauer gesagt im Jahre 2009, in der Endphase der Kämpfe zwischen den Tamil Tigers, den angeschlossenen Tamilenverbänden und der Regierung von Sri Lanka. Keine dieser Parteien wird benannt, es wird nur von «der Bewegung» und den Regierungstruppen gesprochen. Im Grunde ist das nämlich gleichgültig, Kriege sind überall unmenschlich. Gerade durch den Fokus, den Arudpragasam konsequent nur auf die Menschen legt, wird die Anklage gegen alle, die solche Kriege anzetteln, umso schärfer.

Foto des Autors:  © Halik Azeez

Der Autor schildert einen einzigen Tag in einem offenen tamilischen Flüchtlingslager im Nordosten der Insel. Er folgt damit der uralten Regel der Dramatik: Einheit von Raum und Zeit. – Hier zeigt sich wiederum die Kunstfertigkeit dieses jungen Schriftstellers, er beherrscht nicht nur Stil und Sprache, sondern verfügt auch über die Kunst der Komposition. Er wurde 1988 geboren und wuchs in Colombo auf. Dort er lebt auch heute, schließt allerdings gerade ein Doktorandenstudium in Philosophie an der Columbia University in New York ab. Er schreibt auf Tamil und Englisch, bisher hat er Erzählungen veröffentlicht, dieses Buch ist sein erster Roman.

Wer in diesem namenlosen Lager angekommen ist, hat fast alles verloren, Verwandte, Hab und Gut, Arbeit. Auch Dinesh ist allein. Vater und Bruder sind wohl schon länger tot, aber auch die Erinnerung an seine tote Mutter entschwindet ihm. Er muss sich auf das eigene Überleben konzentrieren und auf die Aufgabe, die er von sich aus übernommen hat, Verletzten zu helfen und alleinstehende Gestorbene zu begraben. Dafür braucht Dinesh so viel Kraft, dass alles aus seinem früheren Leben verblasst, sogar die Gesichtszüge seiner Mutter. Das gilt wohl für alle Menschen an diesem Ort. Sie müssen sich darauf konzentrieren, etwas Nahrung zu sich zu nehmen, einen Platz zum Schlafen zu haben und dürfen nicht vergessen, dass die Angriffe der Truppen ihnen in jedem Moment das Leben nehmen können.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Dinesh tut, was zu tun ist, auch einen Jungen, der früher ein Bein verloren hat und dem nun ein Unterarm amputiert werden muss, zum Arzt zu bringen, beeindruckt und scheint die Grausamkeit des Geschehens aufzufangen. – Die Menschlichkeit des einzelnen gibt Gegengewicht. Auch der Arzt verkörpert diese Kraft: Für Kinder nimmt er sich Zeit, die Wunde selbst zu nähen und zu verbinden. – Ohne Gefühle kann man solche Szenen nicht lesen.

Auch Herr Somasundaram trägt Würde in sich. Nachdem seine Frau gestorben ist und auch er sich dem Ende nahe fühlt, möchte er seine Tochter Ganga noch verheiraten, wie es sich gehört. Mit diesem Wunsch spricht er Dinesh an, dessen Verantwortungsbewusstsein und Hilfsbereitschaft ihm aufgefallen sind. Dinesh und, wie wir später erfahren, auch Ganga zögern, schliesslich wird die Hochzeit mit dem allerschlichtesten Ritual vollzogen. – Ein krasser Kontrast zu einer «normalen» Hochzeit, einem Fest mit riesigem Aufwand, wie er im ganzen indischen Raum üblich ist. Ganz behutsam beschreibt der Autor, wie die beiden sich aneinander gewöhnen müssen, Gangas anfängliches Widerstreben, Dineshs Neugier, mehr über seine Frau zu erfahren. Mit viel Poesie beschreibt Arudpragasam, wie Dinesh sich unbemerkt Seife aus Gangas Tasche nimmt, durch den Wald läuft und sich waschen geht. – Plötzlich hatte er bemerkt, wie schmutzig er war, und vermutete, dass seine Frau vielleicht auch deshalb so zurückhaltend war. Die beiden müssen von Grund auf lernen, miteinander zu kommunizieren, und das mit dem Wissen, dass in jedem Moment eine Bombe ihnen den Partner rauben kann. Alle im Lager wissen, dass die eine Kriegspartei am Abend zuschlägt und die andere gegen Morgen ihre Geschosse auf das Zivilistenlager feuert. – Das Ende des Romans soll deshalb hier nicht erwähnt werden, obwohl der Titel es andeutet.

Ein solches Buch führt uns vor Augen, dass Literatur keineswegs «nur» Fiktion ist, sondern dass in der Verdichtung des Geschehens Wirklichkeit und Wahrheit verschärft hervortreten. Die Erkenntnis, dass jede Darstellung aus dem Blick des Beobachters oder der Bearbeitenden entsteht, zeigt, wie wichtig der Standpunkt des Schreibenden oder der Fotografin ist: Geht es um die Bewahrung der Menschlichkeit, um Achtung und Respekt für das Leben der Mitmenschen? Der Roman dieses jungen Schriftstellers beweist es auf eindrucksvolle Art.

 

Anuk Arudpragasam: Die Geschichte einer kurzen Ehe. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Meyer. Hanser Verlag Berlin 2017.
224 Seiten. ISBN 978-3-446-25677-4

 

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt von artlink, Büro für Kulturkooperation, das mit litprom, Literaturen der Welt, verbunden ist. Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

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