StartseiteMagazinGesellschaftSingen bis Sonnenaufgang

Singen bis Sonnenaufgang

Chöre aus aller Welt, auch aus der Schweiz, trafen sich zum 26. Lieder- und Tanzfestival in der lettischen Hauptstadt Riga.

Das lettische Lieder- und Tanzfestival, das seit 1873 alle fünf Jahre stattfindet war, diesmal besonders festlich, denn 2018 jährt sich die Staatsgründung zum hundertsten Mal. Man ist geneigt zu sagen, ohne ihre Chortradition gäbe es die Esten, die Letten und die Litauer als Nation nicht mehr. Sie waren jahrhundertelang von fremden Mächten dominiert, ihre Sprachen unterdrückt. Beim Singen blieben die alten Geschichten und Mythen erhalten und damit das Bewusstsein einer kulturellen Identität. Dieser tief verankerten Gesangskultur kann auch die Digitalisierung nichts anhaben: Das Smartphone ist bei der Jugend genau so präsent wie anderswo, aber sie kennt die Lieder und singt gern. Erst recht am letzten Abend mit dem grössten Chorkonzert, das sich denken lässt.

Hier singen fast 20’000 Chorsängerinnen und -sänger für doppelt so viel Publikum: unglaublich und beeindruckend. Foto: Aivars Liepiņš © Latvian National Centre for Culture Archive

Tausende gehen durch die Alleen des Mežaparks zur Freilichtbühne, die vierzigtausend Zuschauer aufnehmen kann, um dann 18‘000 Sängerinnen und Sängern, hunderten von Musikern und Tänzern sowie den lettischen Stars aus Klassik und Pop bei einem mehrstündigen Chorkonzert zu applaudieren. „So friedlich und ruhig, solche Massen ohne Securitas unterwegs zum Stadion, unglaublich. Und dann das Konzert, ich bin tief beeindruckt. Es war grandios! Der Wahnsinn!“ So tönt es bei den Mitgliedern des Schweizer Chors Interkultur (choRinterRkultuR), der ein halbes Jahr intensiv probte, um das Lieder- und Tanzfestival mitzuerleben, das Riga eine Woche in einer Klangwolke hält. Musiker und Chorleiter Fortunat Frölich liebt den Klang von grossen Chören, Grund genug, seinen Chor, der sich dem musikalischen Kulturaustausch widmet, nach Riga zu bringen.

Die Volkstänze bringen Bewegung in das riesige Chorfest. 

Während der Chorleiter irgendwo auf der Tribüne singt, sitzen seine Soprane und Tenöre, Altistinnen und Bässe beim 40‘000köpfigen Publikum und geniessen auch die zeremoniellen Teile des Fests, welches zum immateriallen Kulturerbe der Unesco zählt: Ansprachen des lettischen Präsidenten und der Kulturministerin, Fahnenweihe, Nationalhymne usw – Patriotismus ist angesichts der jüngeren Geschichte Lettlands verständlich. Etwas später die Ehrung einer ganzen Reihe alter und uralter Chorleiter und einer ebenso bejahrten Dirigentin, die im fliegenden Wechsel je eine Liedzeile mit unglaublichem Elan dirigieren, obwohl etliche von ihnen das Podest nur mit Hilfe besteigen konnten. Danach stundenlang Lied um Lied aus zahllosen Kehlen, uralte Volkslieder, zeitgenössische Kompositionen, teils eingängig, teils schwierig – emotionaler Höhepunkt einer intensiven Woche: „Da kommen 18‘000 bestvorbereitete Sängerinnen und Sänger zusammen und proben konzentriert bis zu zehn Stunden am Tag», und fügt an, „der Klang dieses Riesenchors stellt dir die Nackenhaare auf…“, das spürt nicht nur unser Chorleiter.

Blumenkränze tragen die Frauen, Eichenlaub die Männer – während des Sing- und Tanzfests hatten Blumenhändler Hochkonjunktur. Foto: Ilmārs Znotiņš © Latvian National Centre for Culture Archive

Ausser uns sind viele Chöre aus dem Ausland dabei. Erst beim Rückflug stossen wir auf die zwei Dutzend Sänger des Männerchors Schwerzenbach (ZH). Sie bereiteten sich zwei Jahre lang auf diese Stunden vor, denn es galt zunächst, ausgewählt zu werden. Der Präsident des Chors, Willi Erne erzählt, dass Schwerzenbach eine Partnergemeinde in Lettland habe. So bewarb man sich und durfte vor grossem Publikum im Park konzertieren. Während die Schwerzenbacher Sänger mit der Montanara brillierten, war unser Tophit bei Spontanauftritten in Rigas Altstadt, aber auch zuvor im Flughafen Zürich nach dem verpatzen Abflug, oder im Bus zum Heimflug Chara lingua dalla mamma. Ein Chor aus Tiflis, ebenfalls in dem Bus, griff das Angebot auf und sang Lieder aus Georgien.

Der Chor Interkultur in der Nationalbibliothek, 2014 gebaut für Bücher vom lettischen US-Architekten Gunārs Birkerts (1925-2017). Foto: © Andrejs Strokins

Lettland hat zwei Millionen Einwohner, die Hälfte davon Sängerinnen und Sänger, heisst es. Was die Lieder mit der Befreiung zu tun haben, erfahren wir bei Stadtführungen, besonders nachhaltig bei der literarischen von Matthias Knoll, Wahlriganer und Vermittler der lettischen Literatur, sowie in der Nationalbibliothek. Der Kampf um die Unabhängigkeit während der Perestroika wurde von den Balten nicht mit Waffen, sondern mit Liedern geführt. Die „Singende Revolution“, war eine Menschenkette von zwei Millionen Singenden von Tallin über Riga bis nach Vilnius: In der Nationalbibliothek hat der Schrank mit den Dainas, der Sammlung überlieferter Lieder, einen Ehrenplatz, erzählt uns die Direktorin bei einem kleinen Empfang. Zum Dank bekommt sie einen perfekt intonierten im Patois vorgetragenen Ranz des vaches zu hören. Als der Chor dann aber den lettischen Song Neba maize pate naca (Lied vom täglichen Brot) anstimmt, fallen rundherum auf allen Stockwerken begeisterte Mitarbeiterinnen und Besucher ein.

Tags davor hatte der Chor Interkultur gemeinsam mit dem Lettischen Chor Balts aus Zürich und Sola, einem der besten Chöre Lettlands seinen Auftritt in einem Konzerthaus der Altstadt; gesungen wurden nebst vielen lettischen auch Schweizer Lieder in allen Landessprachen. Obwohl die Hauptprobe total schief ging, weil die Hälfte des Chors im ZurichAirport wegen eines Motorschadens der Air Baltic gestrandet war, konnte dank einer kurzfristig angesetzten Zusatzprobe sogar Kluset un duset. Schlummern und stumm sein uraufgeführt werden – die in Basel lebende lettische Komponistin Anita Meize war zufrieden, das Publikum begeistert.

Kurz vor dem Auftritt gehen die drei jungen Luzernerinnen in der Garderobe nochmals über die Bücher. 

Lettische Chöre treten in Tracht auf. Der Chor Interkultur klassisch in Schwarz, aber Tracht war genehm. „Ich bin kein Trachtenmensch», sagt Sandra Carisch, «aber ich hab es sehr genossen.“ Alle neun, drei junge Luzerner Studentinnen sowie mehrere Bündnerinnen und eine Aargauerin fühlen sich in den teils geerbten, teils nie getragenen Trachten aus der Truhe nicht verkleidet, sondern wohl. Beim Schlusskonzert mit anschliessender Singnacht, wo alle dank Karaoke-Text mitmachen, bis die Sonne aufgeht, bekommt eine Sängerin mit Bündner Sonntagstracht von einer alten Dame einfach so einen Kranz mit Margeriten und Kornblumen überreicht, wundersam.

Überall und jederzeit spielt auf Bühnen in Pärken und auf Plätzen die Musik. Foto: Reinis Oliņš © Latvian National Centre for Culture 

Eine ganze Woche wird fast rund um die Uhr gesungen und getanzt. Zwar sind Billette für die Grossereignisse rar, aber das Staatsfernsehen überträgt alles direkt – auch in unsere Hotelzimmer. Kurz nach der Ankunft bestaunen wir den stundenlangen Umzug der Chöre und Tanzformationen vom Freiheitsdenkmal bis ins Stadion zur Eröffnungszeremonie. Trotz eher unfreundlichem Wetter marschieren Kleinkinder wacker mit, aber fast noch eindrücklicher sind bejahrte Sängerinnen und Sänger, die teils mit Gehhilfen die paar Kilometer zurücklegen. Die Freude ist mitreissend, wir tauchen ein. Eine Woche lassen wir uns bis zur unbeschreiblichen Singnacht mit Sonnenaufgang auf Klangwellen treiben, nicht ohne die Stadt, ihre berühmte Architektur (Riga ist auch Hauptstadt des Jugendstils) und ihre bewegte Geschichte (Gründung 1201) in Führungen und auf eigene Faust zu ergründen.

Detail von einem der vielen Jugendstilhäuser, die Michail Eisensteinum die Jahrhundertwende in Riga baute. 

Zeit bleibt sogar fürs Baden im Meer, eine stimmungsvolle Moorwanderung bei Regen, und Besuche der Rigaer Biennale der Kunst Riboca. Aber Tag und Nacht zieht es uns zu einer der Freilichtbühnen in den Pärken, zu einer Party mit heisser Folkmusic, zu einem spontanen Treffen, wo wir Volkstänze lernen. „Selbst beim Shoppen,“ sagte Anne-Catherine Eigner, „begegnet man singenden Gruppen, so dass man aus der Singblase der Glückseligkeit gar nicht heraus kommt.“ Einzige Enttäuschung der Woche war das Fussballspiel Schweiz gegen Schweden.

Dieses Video in englisch fasst gut zusammen, was das Festival in Riga bedeutet. Zahlreiche Clips gibt’s auf Youtube.

Teaserbild: Foto: Ilmārs Znotiņš © Latvian National Centre for Culture
Weitere Fotos: E. Caflisch

Am 3. November in Chur, am 4. November 2018 in Zürich in der Maag-Tonhalle findet das Konzert «Terra choralis (LV-CH)» mit lettischen Chören aus halb Europa und Chören aus der Schweiz, darunter der Lettische Chor Zürich BALTS und der Chor Interkultur statt.

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