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Fallstricke im Alter

Nach einem langen, geordneten Büroleben kann der Übergang in die Freiheit des Rentenalters ganz schön abenteuerlich sein. Wie geht Herr Katō damit um?

Nachdem er sein Arbeitsleben ordentlich beendet hat, seine persönlichen Sachen aus dem Büro geholt hat, steht Herr Katō vor seinem neuen Lebensabschnitt, und statt die neue Freiheit zu geniessen, fühlt er sich unruhig. Nach der üblichen ärztlichen Untersuchung wird ihm mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei, aber darüber «empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, dass man etwas findet.» Dies die Ausgangslage im kleinen RomanHerr Katō spielt Familie der österreichisch-japanischen Schriftstellerin Milena Michiko Flašar. Die junge Autorin beobachtet ihre älteren Zeitgenossen offenbar genau, erkennt ihre innersten Gefühle und lässt sich nicht von aufgesetzter fröhlicher Betriebsamkeit täuschen.

Hatte Herr Katō nicht seine früher pensionierten Kollegen beneidet, wenn sie von ihren Reisen oder ihren Ausflügen mit dem Motorrad erzählten. Nun ist er zunächst einmal verwirrt und reizbar. Seine Frau mag es nicht, wenn er die ganze Zeit zu Hause sitzt, er ist mit ihr nicht zufrieden, da sie ihren Haushaltpflichten nicht gemäss seinen Vorstellungen nachkommt, schlimmer noch, er fühlt eine gewisse Fremdheit zwischen ihnen beiden. So gerät er auf dem Weg vom Arzt nach Hause ins Sinnieren. Die Zeit drängt nicht, er erlaubt sich Umwege, im gleichen Masse, wie ihm seine Gedanken durch den Kopf ziehen. Er macht sich klar, dass er auf nichts, was er sich vorgenommen hatte, auch nur die geringste Lust verspürt. Das Radio reparieren, den Bonsai umtopfen, seine Kinder anrufen usw., alles lässt ihn kalt. Aber über seine Frau, die ihm die zugenähten Taschen der neuen Hose nicht aufgetrennt hat, regt er sich auf. Dabei könnte es ihm doch auffallen, dass sie einen ähnlichen Widerwillen gegen die alltäglichen Aufgaben im Haushalt empfindet.

Ohne ein klares Ziel kommt man auch leicht ins Träumen. Er wünscht sich schon lange einen Hund, ein weisser Spitz sollte es sein – aber seine Frau ist dagegen. Sie wiederum würde lieber in eine kleinere Wohnung umziehen, während er von mehr Platz träumt, «vergrössern» möchte. Obwohl ihr Haus auf einem Hügel steht und der Heimweg immer beschwerlicher wird, weigert sich er sich rigoros, einen Umzug auch nur in Erwägung zu ziehen.

Zu Hause überrascht sie ihn mit ihrem Entschluss, sich einen langgehegten Wunsch zu erfüllen und einen Kurs «Ballett für Ältere» zu besuchen. In diesem Moment hat Herr Katō sich ebenfalls schon für eine kleine Verrücktheit entschieden. Er hat auf seinem ausgedehnten Heimweg eine junge Frau getroffen, die eine Agentur namens «Happy Family» führt. Ohne sich gegenseitig zu kennen, kann man dort eine Person buchen, die für ein paar Stunden eine bestimmte Rolle in der Familie oder im Bekanntenkreis übernimmt. Eine Idee, die in einer Gesellschaft Erfolg hat, in der mangelnde Gemeinschaft, Kontaktarmut und Einsamkeit sich ausbreiten.

Wie der Name der Hauptperson deutlich macht, spielt der Roman irgendwo in Japan. Er bezieht sich auf die starke Verpflichtung der japanischen Arbeitnehmer an ihre Firma, auf die Bindungen innerhalb der japanischen Familie, die gar nicht mehr so fest gefügte Strukturen besitzt. Für uns Lesende in Mitteleuropa besteht also eine gewisse Distanz zur Handlung. – Aber erkennt man nicht gerade aus einem solchen Abstand die naheliegenden Schwächen umso deutlicher? Milena Flašak beschreibt Herrn Katō so liebevoll und zugleich ironisch, dass wir mit Schmunzeln weiterlesen. Herausragend erscheinen die Abschnitte, in denen sich Herrn Katōs Gedanken und seine Spaziergänge ineinander verschränken, gleichzeitig kunstvoll und realistisch, denn es ist ja eine bekannte Erfahrung, dass es sich beim Gehen besonders gut über das Leben und seinen Sinn nachdenken lässt.

Milena Michiko Flašar  © Helmut Wimmer 2017

Herr Katō lässt sich also auf mehrere Engagements ein, er «spielt» Opa, entdeckt dabei seine Zuneigung zu einem kleinen Jungen, er übernimmt auch ermüdende Rollen und macht Fehler, durch die er etwas über sich selbst lernt. – Die Autorin spielt mit der alten Weisheit, dass wir uns selbst erkennen, wenn wir ‹über den Hag schauen› und uns in anderen gespiegelt sehen? Schliesslich findet er wieder zu seiner eigenen Familie zurück, auch das Abenteuer seiner Frau in ihrem Tanzkurs ist nicht von Dauer. Mehr soll hier über Fortgang und Schluss des Buches nicht gesagt werden. – Es ist ein heiteres Buch, das Alltägliches und Tiefsinniges nebeneinander stellt, ohne dass daraus Banalitäten werden.

Die Autorin Milena Michiko Flašar wurde 1980 in St. Pölten geboren. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. In Wien und Berlin hat sie Germanistik und Romanistik studiert. Ihr erster Roman Ich nannte ihn Krawatte war sehr erfolgreich und wurde als Theaterstück am Maxim-Gorki-Theater in Berlin uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Mit ihrer Familie lebt die Autorin in Wien.

Milena Michiko Flašar: Herr Katō spielt Familie. Wagenbach Verlag Quartbuch. 2018. 176 Seiten. 14 x 22 cm. ISBN 978-3-8031-3292-5

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