Tanz, Gesang und Orchester gemeinsam auf einer Via Dolorosa: Das ist Franz Schuberts «Winterreise» in der Bearbeitung des Choreografen Christian Spuck im Zürcher Opernhaus.
Das Lied vom Leiermann und das sich stetig drehende Paar auf der Bühne zum Schluss von Franz Schuberts «Winterreise» fassen die Interpretation von Christian Spuck am Samstagabend im Zürcher Opernhaus uraufgeführten ersten Ballettproduktion der neuen Saison zusammen: Da ist kein Anfang und kein Ende, da ist nur Traurigkeit, Kälte und Resignation. Man erwacht wie aus einem Traum – und ist tief berührt.
Zu Tränen gerührt
Damit hat der Zürcher Ballettdirektor genau jenen Nerv getroffen, den das Publikum bereits bei der Uraufführung 1827 von Franz Schuberts Liederzyklus, basierend auf Gedichten von Wilhelm Müller, spürte. «Am Schluss weinten alle» ist in alten Kritiken zu lesen.
«Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus», so beginnt der Liederzyklus von Franz Schubert. Christian Spuck hat diese Verlorenheit grandios umgesetzt. (Alle Bilder Gregory Bartadon/Opernhaus Zürich)
Es muss ein ganz besonderer Zauber ausgehen von diesem von Franz Schubert ein Jahr vor seinem Tode geschaffenen Liederzyklus, der auf einer nicht erzählten Vorgeschichte und einer in 24 Liedern zusammengefassten, nichtchronologischen Nichthandlung fusst. Es nicht mehr ist als eine Reihe depressiver Lieder, die von einem Wanderer erzählen, der voll melancholischem Selbstmitleid und voller Sehnsucht nach einer nicht näher definierten Liebe durch die Welt stapft.
Radikal reduziert
Spuck ist nicht der Erste, der diesen poetisch verklärten Melancholietrip als Ballett auf die Bühne bringt. Aber so radikal reduziert, so fokussiert auf die drei Faktoren Tanz, Gesang und Orchestermusik hat man diese Winterreise noch nicht gesehen. Nicht mal richtig Schnee hat es, ja nicht mal einen klar definierten und schon gar nicht einsamen Wanderer. Der kann auch mal ein Kollektiv sein, sich in einem der zahlreichen und berührend schönen – schon wieder dieses Wort! – Pas de deux bewegen.
Die Bühnengestaltung (Rufus Didwiszus) ist mehr als einfach: Graue Wände, grauer Boden, manchmal teilweise abgesenkt, variable Lichtröhren. Und eine Handvoll Schnee. Und mal ein paar Krähen oder Bäume. Die allerdings sind Tänzer auf Stelzen mit auf dem Rücken gebundenem Reisig. Es ist eine karge, kalte Welt, spiegelt weniger die Landschaft als das Innenleben des Wanderes wider.
«Krähe, lass mich endlich sehn/Treue bis zum Grabe!»
Ebenso karg sind die Kostüme (von der wunderbaren Emma Ryott), vor allem in Grau und Schwarz gehalten, nur manchmal blitzt ein verhaltenes Eisblau auf und zum Schluss gibt es viel nackte Haut. Die Klageweiber auf dem Totenacker tragen langes, am Boden schleifendes Grau, dazu derbe Wanderstiefel.
Musik und Gesang als gleichwertige Partner
Nichts lenkt ab vom Tanzen auf der Bühne, dem Tenor – nein, kein Bariton – und dem Orchester. Spuck hat sich gegen die ursprüngliche Klavierbegleitung und für die 1993 von Hans Zender verfasste «Komponierte Interpretation» entschieden. Eine gute Wahl, denn so wird das Orchester unter Leitung von Emilio Pomarico zum Farbgestalter, der all die auf der Bühne fehlenden Temperamente akustisch einbringt.
Einen schwierigen Part hatte am Premierenabend der Südafrikaner Thomas Erlank, der für den erkrankten und von vielen freudig erwarteten Schubertlieder-Interpreten Mauro Peter einspringen musste. Und sein Zürcher Debüt bravourös meisterte. Er sang den ganzen Zyklus auswendig und, abgesehen von der zu Beginn deutlich hörbaren Anspannung, mit warmem, sicherem Timbre und praktisch ohne Patzer. Den grossen Applaus am Schluss hat er sich wohlverdient!
«Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an, und die Hunde knurren um den alten Mann.»
Die Zendersche Fassung verlangt vom Sänger eine fast ununterbrochene Konfrontation mit dem Orchester. Dazu muss er, anders als bei der Originalfassung mit Klavier, auf jede dramaturgische Intention verzichten, also einfach nur singen und die Emotionen der Musik und dem Tanz überlassen. Dass diese «Kompetenzenaufteilung» so gut gelingt, dass Musik, Tanz und Stimme eine Balance finden, in der jeder Part mal dominiert, nur um sich dann wieder in das Ganze einzugliedern, ist eine der Stärken dieses Ballettabends.
Homogene Compagnie
Die Tanzenden dürfen dabei nicht vergessen gehen. Sie dominieren diese Winterreise zwar nicht, sind aber viel mehr als illustrative Bebilderung der einzelnen Verse. Christian Spuck hat sein gesamtes Ensemble aufgeboten und gibt so vielen die Möglichkeit, mal im Rampenlicht zu stehen.
Die zahlreichen wunderschönen lyrischen Pas de deux bezaubern ebenso wie die Soloauftritte und in den Gruppenszenen verschmelzen die einzelnen Körper zu einem pulsiernenden dynamischen Organismus. Der Wechsel zwischen zeitgenössischem Tanz mit der ihm eigenen natürlichen Bewegungsdynamik mit geflexten Füssen und dem klassischen Spitzentanz akzentuiert einzelne Lieder ganz ohne Worte. Ein eindrücklicher, berührender Ballettabend!
Weitere Vorstellungen im Oktober, November und Dezember. Infos unter www.opernhaus.ch.