StartseiteMagazinGesellschaftEin moderner Sherlock Holmes aus Fernost

Ein moderner Sherlock Holmes aus Fernost

Spektakulär sind die Fälle, die der Hongkonger Inspektor Kwan Chun-Dok zu lösen hat. Chan Ho-Kei bettet sie in die Geschichte Hongkongs der letzten 50 Jahre ein.

Gleich in der ersten von sechs Kriminalstories stockt uns Lesenden der Atem: Der scheinbar im Koma liegende legendäre Inspektor Kwan, «Das Auge von Hongkong» genannt, gibt die entscheidenden Hinweise zur Aufdeckung zweier Morde. Wie das zustande kommt, erfahren wir ganz am Schluss dieser Geschichte und werden wohl ob der Dreistigkeit von Inspektor Sonny Lok gleich wieder nach Luft schnappen müssen.

Das Prinzip des Autors Chan Ho-Kei wird schnell erkennbar: Er benutzt wie Arthur Conan Doyle die traditionellen Muster der vernünftigen Herleitung eines Verbrechens. Wie beim berühmten Engländer agiert in den sechs Geschichten der erfahrene, superintelligente Kwan Chun-Dok, anfangs allein, später zusammen mit seinem kriminalistischen Ziehsohn Sonny Lok. Was dabei passiert, liest sich nicht nur spannend und verlangt, um alle Wendungen mitzukriegen, unsere ganze Aufmerksamkeit, dazu sind die Stories immer wieder gespickt mit komischen Elementen. Zuweilen scheint der Autor das Krimi-Genre zu parodieren, zuweilen meinen wir, der Autor mache sich über den realen verkrusteten Polizeiapparat in Hongkong lustig.

Ein Inspektor mit Scharfsinn und List

Ein Mord mit einer Harpune, ein Gangsterkönig, dessen abenteuerlicher Ausbruchsversuch von Inspektor Kwan durchschaut wird, eine Entführung, ein Bombenattentat, – Hongkongs Krimiwelt entfaltet ihre dunklen Seiten wie in anderen Millionenstädten auch, und wie in anderen Weltgegenden sind mafiöse Clans mächtig und nur mit Kwans Scharfsinn und List in Schach zu halten.

Ulrich Baehring, Aussicht vom höchsten Berg von Kowloon über Viktoria Harbour und Hongkong-Island © commons.wikimedia.com

Der Autor Chan Ho-Kei ist 1975 in Hongkong geboren und lebt auch heute noch dort. Als ausgebildeter Programmierer entwickelte er Computerspiele und lektorierte Mangas. Neben Romanen hat er auch Short Stories geschrieben, für die er ausgezeichnet wurde. «Das Auge von Hongkong» konzipierte er als Roman in sechs Kurzgeschichten, die ohne weiteres einzeln zu lesen sind, untereinander allerdings in Zusammenhang stehen. Nicht nur, dass Kwan in jeder der Geschichten eine Rolle spielt, sondern wir erkennen, wie der Inspektor zu seinem Ruhm kam, alle Verwicklungen aufdecken zu können. Jeder Geschichte ist eine Jahreszahl zugeordnet, von 2013 bis 1967, als Kwan als ‹Cop 7› noch einfacher Streifenpolizist war, durch sein Handeln seine Vorgesetzten auf sich aufmerksam machte und befördert wurde und durch seine Menschlichkeit Hongkonger Einwohner beeindruckte.

Im aufschlussreichen Nachwort schreibt Chan, dass er sich vorgenommen hatte, den Geschichten jeweils einen Umfang von ca. dreissigtausend Schriftzeichen zu geben und sie in umgekehrter zeitlicher Abfolge anzuordnen. Aus verschiedenen Gründen, vor allem aber, weil Chan seinen Roman nicht zu einem reinen Loblied auf Hongkongs Polizei machen wollte, entstand die vorliegende Form. Chan wollte «statt einer althergebrachten Schilderung von Kriminalfällen die Geschichte einer Persönlichkeit, einer Stadt und einer Ära erzählen».

Blick in die bewegten Jahrzehnte Hongkongs

Bei der Lektüre sollten wir uns nicht nur auf den Handlungsstrang konzentrieren, sondern auch darauf achten, was sich in Hongkong im Laufe der Jahrzehnte ändert: Aus dem englischen Stützpunkt der Kolonialzeit wird nach und nach eine chinesische Metropole. Wer den Roman wie üblich von vorn nach hinten liest, wird mit der Zeit auf Überbleibsel der britischen Herrschaft, auch bei der Polizei, stossen. Für uns Lesende scheinen die englisch oder europäisch geprägten Vornamen vieler Polizisten ein solcher Rest aus der britischen Herrschaft – oder deutet sich damit eine Vorliebe für alles Amerikanische an?

Chan schreibt, dass er die Jahreszahlen ganz bewusst so gewählt hat: 1967 fanden die gewalttätigen Hongkonger Aufstände statt, bei denen sich die Polizei einen schlechten Ruf erwarb; 1997 zogen sich die Briten endgültig zurück; 2014 wühlte die ‹Regenschirm-Bewegung› vor allem die junge Generation auf. – Ein Kriminalroman, der nach und nach seine tieferen, gesellschaftspolitischen Schichten erkennen lässt.

Chan Ho-Kei: Das Auge von Hongkong. Die sechs Fälle des Inspector Kwan. Krimi. 576 Seiten; übersetzt von Sabine Längsfeld. Atrium Verlag. 2018. ISBN 978-3-85535-028-5

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt vonartlink, Büro für Kulturkooperation, das mitlitprom verbunden ist. Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

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