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Aussenseiterkunst

Im Aargauer Kunsthaus sind neben bekannten Art-Brut-Künstlern auch Arbeiten einer jüngeren Generation zu entdecken.

Schon nach einem ersten Rundgang durch die Ausstellung Kunst im Verborgenen lassen einen die Gesichter und vor allem die Augen auf den Zeichnungen und Gemälden nicht mehr los. Schauen sie den Betrachter an, oder sind sie leer? Gleich mehrere der Malenden haben weder Iris, noch Pupille gemalt, sondern die mandelförmige Form der Augen mit einer Farbe randlos ausgefüllt. Blind ist der Blick nicht, vielleicht rätselhaft, aber ganz gewiss auf den Betrachter gerichtet.

Aloïse Corbaz: Napoléon portant une reine au corps cerné de perles, ca. 1946–1947

Das Unbedingte dieser Malerei springt einen direkt und unvermittelt an, ein kreativer Ausbruch, eine Reise in eine Welt der Fantasie, die nichts mit der wohl eher trostlosen Existenz dieser Kreativen zu tun hat, die meisten in geschlossenen Anstalten mit Namen wie Belvoir – Schöne Aussicht – einsitzend, ohne Aussicht, je wieder in Freiheit leben zu können. Hier zeigt sich ein unbedingter Wille, mit Stift oder Pinsel auf Papier zu gestalten. Der Maler und Sammler Jean Dubuffet lernte einige von diesen Künstlerinnen und Künstlern kennen, als er von einer Anstalt zur andern durch die Schweiz reiste, auf der Suche nach dem ganz ursprünglichen, unverfälschten, von jeder Akademie losgelösten künstlerischen Ausdruck.

Angelo Meani: Ohne Titel, um 1950–1977. Assemblage aus Keramik, Porzellan, Glass, Geschirr und gefundenem Material

„Ungeschliffene Diamanten“ nannte Dubuffet diese Arbeiten, die, erzeugt im Abseits aller kulturellen Welten, von ihm gesammelt wurden. Die Sammlung wuchs auf über fünfzehntausend Werke an. Weil er so viele der gesuchten Zeichnungen, Malereien und Objekte in der Schweiz gefunden hatte, schenkte er 1975 den grössten Teil der Stadt Lausanne. Heute ist das Museum Beaulieu mit der Collection de lart brut eine einmalige Kulturinstitution.

 

 

 

Der Art-Brut-Gattungsbegriff umfasst weit mehr als künstlerische Arbeiten aus psychiatrischen Kliniken, dazu werden auch Künstlerinnen und Künstler gezähltdie sich als Medium begreifen, oder Werke von Menschen, die ausserhalb der Klinik, aber auch ausserhalb der Norm ihr Leben bestreiten, nach Dubuffets Definition alle, die ohne Ausbildung Kunst produzieren, oft hochbegabte Sonderlinge und seltsame Käuze, wie beispielsweise Armand Schulthess mit seiner Bibliothek des Wissens, die er aus Texten und Objekten gestaltete.

Heinrich Anton Müller: Ohne Titel, zwischen 1925 und 1927. Farbstift auf Zeichenpapier

Rund 200 Malereien, Zeichnungen und Assemblagen von 22 Künstlerinnen und Künstlern aus der Schweiz sind ausgestellt. Julia Schallberger, welche die Ausstellung gemeinsam mit der Collectiohn de l‘art brut einrichtete, hat die Bilder in Aarau thematisch über die Räume aufgeteilt und mit Werken von Adolf Wölfli, Walter Anton Steffen sowie weiteren Stücken aus der hauseigenen Sammlung ergänzt. Den zentralen Raum hat sie Emma Kunz gewidmet: Symmetrie, meditative Ruhe, Transzendenz strahlen die mit dem Pendel generierten Zeichnungen aus. Emma Kunz wollte nicht Kunst produzieren, sondern mit den Zeichnungen und Objekten heilen und helfen. So ist nun ein Ort der Ruhe und Besinnung mitten in der heftigen, manchmal aggressiven, manchmal angespannt-gefährlichen Welt entstanden, in die einen die Bilderwelt versetzt. Unlängst waren ihre Bilder, wie seniorweb berichtete, in  der Ausstellung Weltempfänger im Lenbachhaus zu sehen.

Adolf Wölfli, Plan d’insurrection du château de St-Adolf à Breslau, 1922. Buntstift auf Papier

Adolf Wölflis riesige Papierbögen voller durchgestalteter, präzis ausgemalter Visionen ganzer Königreiche, geschmückt mit reicher Ornamentik und Texten oder Musiknoten zeugen nicht nur von seiner Fantasie und seinem Gestaltungswillen, mit dem er seine starken Emotionen bändigte, sondern auch von der Förderung durch den Klinikchef der Waldau, Walther Morgenthaler. Aloïse Corbaz, die ihren Lebensunterhalt als Kindermädchen und Schneiderin am Hof von Kaiser Wilhelm II. in Berlin verdiente, später versorgt und schliesslich in der Klinik La Rosière bis zum Tod 1964 lebte, malte eine bunte Figurenwelt, angeregt von ihrer vornehm-adeligen Arbeitsumgebung, von Märchen und Opern, mit Fettkreide auf Packpapierbögen, die sie nötigefalls zu riesigen Malgründen zusammenklebte.

Julie Bar, Ohne Titel, ca. 1920
Bleistift auf einer linierten Heftseite

Andere Künstler in Kliniken, zum Beispiel Julie Bar, hatten weniger Glück, bekamen kaum die nötigen Werkzeuge, mussten sich mit Bleistift und Notizzetteln begnügen. Während häufig mit wilder und heftiger Gestik vor allem menschliche Figuren auf den Malgrund geworfen wurden, gibt es eine ganze Reihe von Künstlern, die akkurat architektonische Welten, Häuser oder Paläste ausführten, an denen sie – wie Adolf Wölfli an seinen grossen Formaten – wohl längere Zeit arbeiteten. Zu nennen wäre Diego, der behindert seit der Geburt 1963, kleinteilige Hausfassaden, meist moderner Riesenchalets, gezeichnet mit dem Lineal, koloriert mit Filzstift, als Ausweg aus seinem misslichen Leben darstellt. Eine Entdeckung ist auch der gleichaltrige Martial Richoz, der aus Wegwerfmaterial abenteuerliche Fahrzeuge für Lausannes Schienen und Strassen herstellt. Der Italiener Angelo Meani, als Steinhauer und Graveur ausgebildet, floh im zweiten Weltkrieg vor der Einberufung in die Armee 1943 in die Schweiz und endete als Randexistenz in Lausanne. Seine witzigen Köpfe oder Masken aus Fundstücken, Porzellanscherben und weiteren Resten der Zivilisation setzen heitere Kontrapunkte in die düster-bedrohliche Bilderwelt einer existentiell unausweichlichen Kunst.

In Aarau wurde die Ausstellungsdauer um fast einen Monat (bis zum 19. Mai) verlängert, parallel läuft in Wien die Schau Flying High: Künstlerinnen der Art Brut (bis zum 26. Juni), auch werden immer mehr Museen eröffnet, die sich der Art Brut widmen, und die Wand zwischen Outsider- und Hochkunst scheint zusehends durchlässiger, ästhetische Kriterien geraten in den Fokus und bislang Abgeschobenes steht im Interesse der Kunstwelt.

Hans Krüsi, Ohne Titel, o.J.Öl auf Karton

Kunstkritiker Gerhard Mack denkt anhand der Aargauer Ausstellung in der NZZ am Sonntag über die wachsende Aufmerksamkeit nach, welche die Art Brut zurzeit geniesst, und ortet sie „in der gegenwärtigen Lage der akademischen Kunst“. Noch nie seien an den Hochschulen solche Massen von Künstlern ausgebildet und für den Markt getrimmt worden. Diese Akademiekunst sei „wie x-beliebige Abschlusspräsentationen“ zeigten, „zu gekonnt, zu strategisch, mit reduzierter existenzieller Substanz und Innovationskraft.“

Was der Art Brut zugeordnet werden kann, ist sehr unterschiedlich, aber den Werken ist gemeinsam, dass sie den Betrachter direkt berühren, den existentiellen Druck, der sie hervorbrachte, direkt spürbar machen. Sie krallen sich im Hirn fest, lösen Emotionen aus und bringen einen mit rätselhaften Kompositionen zum Nachdenken über das Unbedingte, was Kunst ausmacht.

bis 19. Mai
Alle Bilder: 
Collection de l’Art Brut, Lausanne
Teaserbild: Berthe Urasco, Ohne Titel, o.J., Bleistift und Buntstift auf Papier

Hier finden Sie alles zur Ausstellung Collection de l’art brut. Kunst im Verborgenen

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