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Klimawandel – Schrecken und Faszination

Der Schweizer Fotograf Yann Mingard arbeitete zwischen 2015 und 2018 an seinem Projekt «Alles in der Schwebe, daher unser Schwindel». Nun ist es im Musée de l’Elysée in Lausanne anzuschauen.

Zugleich Fotoprojekt als auch Dokumentation zeigt diese ungewöhnliche Ausstellung im führenden Fotomuseum der Westschweiz verschiedene Aspekte von Umweltkatastrophen, seien sie von Menschen verursacht oder nicht, seien sie wirklich eingetroffen oder nur befürchtet.

Yann Mingard, 1973 geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung als Landschaftsgärtner und besuchte dann Kurse an der Genfer Hochschule für Kunst und Design und an der École de photographie in Vevey. Seither widmet er sich nur der Fotografie, ohne dabei seine ganz eigene, eng mit der Erde und der natürlichen Umwelt verbundene Sensibilität aufzugeben. Seine Fotografien sind in sechs Monografien erschienen und wurden in zahlreichen Einzel-, Gruppen- und Themenausstellungen in der Schweiz wie im Ausland gezeigt. Für seine Werke erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen in Form von Preisen, Künstleraufenthalten und -aufträgen.

Portrait Yann Mingard

Mingards fotografische Arbeiten in dieser Ausstellung gehen stets einher mit Reflexionen zu den einzelnen Themen. Er sieht die Gegenwart im Zusammenhang mit der Geschichte, sowohl der Sozialgeschichte, der Naturgeschichte als auch der Geschichte der Technik. Der Fotograf äussert dazu: «Die Anfänge der Fotografie fielen ungefähr mit der Erfindung der Dampflokomotive zusammen. In den vergangenen 180 Jahren hat sich alles beschleunigt und exponentiell vervielfacht. Wissenschaftler sagen, dass die Kraft, die heute die Erde am stärksten formt und prägt, die menschliche Kraft ist.» – Mingard ist vielseitig interessiert, so hat er sich auch von Mary Shelleys Roman «Frankenstein oder der moderne Prometheus» inspirieren lassen.

Ganz konkret stellt die Ausstellung mehrere Szenarien nebeneinander, unter anderem eine nukleare Beinahe-Katastrophe, die Bestrebungen, das sibirische Wollmammut wiederzuerschaffen, die Luftverschmutzung in China oder die Weiterentwicklung eines katholischen Gelübdes aus der Aletschregion.

Gelübde und Klimaerwärmung

Als Schutz vor dem Aletschgletscher diente den Bewohnern von Fiesch seit 1678 ein von Papst Innozenz XI offiziell anerkanntes Gelübde, aufgrund dessen Gott sie vor dem Übel bewahren soll, das der damals ständig wachsende Gletscher mit sich bringen könnte. Der Präfekt von Goms bat 2009 Papst Benedikt XVI. darum, dieses Gelübde neu zu formulieren und entsprechend zu segnen.

Yann Mingard, Ohne Titel, Great Aletsch Glacier, Moosfluh, Schweiz, 2017 (Kapitel Great Aletsch Glacier)

Denn eine vollkommen andere Art von Wunder wäre erforderlich, um das Verschwinden der Alpengletscher in diesem Jahrhundert aufzuhalten: Es bräuchte den «Glauben» an die Tatsache, dass der Klimawandel heute weitgehend auf menschliche Aktivität zurückzuführen ist, aber auch an die dringende Notwendigkeit, Entscheidungen herbeizuführen und gesellschaftliche und politische Massnahmen zu ergreifen, um die Treibhausgase und den Kohlendioxidausstoss in die Atmosphäre drastisch zu reduzieren. – Den Fiescher Gläubigen wurde die Änderung des Gebetes zugestanden, wie in den ausgestellten Briefen zu lesen ist.

«CRESTED ICE» («Eis mit Haube»)

Dies war der Deckname für eine geheime Bergungsmission, die 1968 von der US-Armee in der Nähe des Luftwaffenstützpunkts Thule in Grönland durchgeführt wurde. Beim Absturz eines B-52-Bombers, der vier Wasserstoffbomben trug (jede einzelne 100 Mal stärker als die Hiroshima-Bombe), war man nur knapp einer Atomkatastrophe entkommen. Nur die konventionellen Sprengkörper explodierten, doch die nuklearen Bomben wurden versprengt und drangen ins Eis ein. Ein bierfassgrosser Zylinder mit Plutonium, der für die zweite Sprengphase bestimmt war, wurde bis heute nicht wiedergefunden (Halbwertszeit 24.000 Jahre).

Yann Mingard, Ohne Titel, Screenshot des US Army-Films über den Absturz einer B-52 mit vier Wasserstoffbomben bei Thule, Grönland. Film von 1968, Public Domain © Yann Mingard / Courtesy Parrotta Contemporary Art

Neun Monate lang sammelten 700 Arbeiter verstrahltes Eis auf und die Bombenreste wurden in die USA gebracht, um dort vernichtet zu werden. Der Thule-Unfall besiegelte das Ende der Operation «Chrome Dome», eines Luftraumüberwachungsprogramms des Kalten Krieges, bei dem – aus Vorsicht wie zur Abschreckung – zwischen 1960 und 1968 permanent zwölf B-52-Flieger am Rande des sowjetischen Staatsgebiets in der Luft gehalten wurden. Erst Jahrzehnte später wurden die Dokumente und Filme zu diesem Programm von der amerikanischen Regierung freigegeben. Sie bilden die Grundlage für dieses Kapitel.

SEVEN SUNSETS («Sieben Sonnenuntergänge»)

Diese Folge von zweimal sieben Bildern zeigt Details aus Gemälden von William Turner und Thomas Hope McLachlan. Rechts sind Ergebnisse aus Google-Images zu den Suchbegriffen «AQI + air pollution in China 2015“ abgebildet. Mingard erinnert an einen der schwersten Vulkanausbrüche (1815, Tambora auf Sumatra, Indonesien) und seine weltweiten Folgen: 1816 war ein «Jahr ohne Sommer» mit Hungersnöten und Krankheiten.

Yann Mingard, Ohne Titel. Links: Joseph Mallord William Turner, Sonnenuntergang, um 1830-5, (Detail). Rechts: Detail eines Screenshot eines bei Google gefundenen Bildes mit den Suchbegriffen “AQI+ air pollution in China 2015“. © Yann Mingard / Tate Britain, Courtesy Parrotta Contemporary Art

Im Jahr 2014 untersuchte der griechische Atmosphärenwissenschaftler Christos Zerefos die Farben Rot und Grün in Gemälden, um herauszufinden, wieviel vulkanischer Rauch in gemalten Dämmerungen dargestellt ist. Von William Turner wissen wir, dass er zu seiner eigenen Arbeit erklärte: «Ich male das nicht, damit es verstanden wird, sondern um zu zeigen, wie ein solches Ereignis aussieht.»

Diese Arbeit – Fotoprojekt und Dokumentation in einem – mit ihren zuweilen skurrilen, manchmal beängstigenden oder paradoxen Elementen sieht Yann Mingard selbst als Meilenstein auf seinem Weg. Die Schönheit eines Eiskristalls und die Schnelligkeit des schwindenden Gletschereises zusammenzusehen, kann einem Schwindel verursachen, meint der Fotograf.

Yann Mingard, Ohne Titel, Eisbohrkern, Institut für Umweltgeowissenschaften, Forschungsgruppe GLACE, Grenoble, Frankreich, 2017.

Als die Ausstellung konzipiert wurde, war wohl der weltweite Kampf der jungen Leute für griffige Massnahmen gegen den Klimawandel noch nicht so aktuell wie jetzt. Doch scheint es kein Zufall, dass die Demonstrationen und diese Ausstellung gleichzeitig stattfinden. Denn es geht Yann Mingard darum, uns zum Nachdenken aufzufordern und Stellung zu beziehen. Die Schönheiten unseres Planeten wahrzunehmen und zugleich die unüberschaubaren Gefahren zu erkennen – dieser Zwiespalt könnte uns aus dem Gleichgewicht bringen.

Sehr empfehlenswert ist es, sich für die Audioaufnehmen des Künstlers im Kellergeschoss Zeit zu nehmen (leider nur auf Französisch). Eine ausführliche Broschüre zum Mitnehmen steht kostenlos in drei Sprachen zur Verfügung.

Bis 25. August 2019 im Musée de l’Elysée Lausanne.

Titelbild: Yann Mingard, Ohne Titel, Murgang, Illgraben, Schweiz, 2016 (Kapitel Torrential lava).
Alle Bilder © Yann Mingard / Courtesy Parrotta Contemporary Art.

Publikation:
«Everything is up in the air, thus our vertigo».
Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt und führt die Leser an den Abgrund, sowie in die Eingeweide von Felseinbrüchen, zertrümmerten Bäumen und Murgängen;
mit Texten des Schweizer Künstlers Frédéric Moser.
Editions GwinZegal November 2018; 144 Seiten. Zweisprachige Ausgabe Englisch / Französisch ISBN: 979-10-94060-24-7

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