Das Postfach

«Welches ist Ihr liebster Raum in Luzern?» fragte mich eine junge Frau, die eine Studie verfassen wollte:»Das kann ein Platz sein, eine Wohnung, das Innere eines Schrankes». Letzteres brachte mich auf die Idee: «Das ist mein Postfach», antwortete ich. Und auf ihren verdutzten Gesichtsausdruck hin präzisierte ich: «Da versammelt sich immer wieder das Neuste der Schweiz». Damit meinte ich natürlich, damals noch Nationalrätin, das Neueste, das sich Bundesrat und Parlament in Form von Botschaften und Gesetzesberatungsfahnen hin- und herschickten.

Das waren, vor dem digitalen Zeitalter, noch die hohe Zeiten der Paketpost vor, während und nach den Sessionen des Parlamentes. Eine richtige Hin- und Herschieberei von Akten fand statt. Das Verpacken besorgten wir am Ende der Sessionen jeweils selbst. Dafür lagen Schnüre, Scheren, Verpackungsmaterial im Vorzimmer des Nationalratssaales bereit. Und wenn ich am Arbeitstisch neben dem damals schon bedeutenden SP-Politiker Helmut Hubacher mein Paket schnürte, erstarrte ich beinahe vor Ehrfurcht.

Ausserhalb der Sessionszeiten wurde es nicht besser. Da wurden die Parlamentsmitglieder mit Zeitungen, Zeitschriften Jahresberichten, Werbungen von Organisationen und Institutionen aller Art, überschwemmt. Paradox: als wir keine Zeit zum Lesen hatten, bekamen wir «alles», ungefragt und gratis. Jetzt, da die Zeit keine Mangelware mehr ist, bleibt der Briefkasten leer und wir gehen ins Kaffeehaus, um Zeitungen zu lesen und uns auf den neusten Stand der Dinge zu bringen.

Die junge Frau begleitete mich dann in die Bahnhofpost, heute aufgewertet als «Post Universität», in der sich die Postfächer befanden. Ich hob zu einem grossen Lob dieser Einrichtung an. Fügte meine Beobachtungen über die Besucherinnen und Besucher der anderen Postfächer bei. Mit diesen konnte ich mich, besonders jeweils am Samstagmorgen – da holten die Geschäftsinhaber ihre Post persönlich ab – in endlose Gespräche vertiefen. Je nachdem musste ich meine politische Arbeit erklären oder rechtfertigen. Mein Auftritt bei den Postfächern wurde dann für die Studie gefilmt. Das Video ist heute noch im Internet auffindbar.

Wieso kam mir das alles so plötzlich wieder in den Sinn? Weil ich unterwegs ein Mitglied des damaligen Postfachteams antraf. Wir waren beide zwanzig Jahre älter geworden. Er war aber immer noch dabei, immer noch begeistert von seiner Arbeit, in seinem achtundreissigsten Dienstjahr. Ich erinnerte mich gut daran, und sprach es auch aus, wie sorgfältig sie jeweils die Postsendungen an meine Luzerner Adresse betreut hatten. Denn nach Bern nachschicken lassen wollte ich mir diese nie.

Am Ende einer Sessionswoche konnte ich den ganzen Berg immer schön geordnet abholen. Die Zeitungen waren gebündelt. Das Wichtigste hätte ich sicher bereits in Bern gelesen, war der Gedanke. Die Briefe in den grossen und kleinen Kuverts waren interessant.

Wir sprachen jeweils durch den «Grobwarenschalter». Das war ein in den Fächern ausgespartes Viereck, durch das eben auch Gröberes wie Pakete durchgereicht werden konnten. Was da nicht durchging, konnte am Postschalter abgeholt werden. Selbstverständlich gab es auch durch den Grobwarenschalter hindurch Gespräche. Über das, was in Bern gegangen war. Aber auch über das, was aktuell in Luzern an Konzerten und Opern zu hören war. Denn in der Postfachabteilung arbeitete ein Kenner, der mich immer auf besondere Aufführungen aufmerksam machte. Eben diesen Spezialisten hatte ich nach zwanzig Jahren wieder angetroffen.

Eine spezielle Anekdote habe ich nie mehr vergessen. Wir hatten in Luzern eine, um es diplomatisch auszudrücken, etwas merkwürdige Aufführung des «Fliegenden Holländers» von Richard Wagner. Der «Spezialist» vom Postfach ärgerte sich und ereiferte sich. Schwärmte von der Musik in höchsten Tönen. Lobte die Interpreten in den Himmel. Und verdammte das Bühnenbild in die tiefste Hölle.

Er sei an die Theaterkasse gegangen und habe gesagt: «Geben Sie mir einen Platz, auf dem ich sicher, aber sicher, nicht auf die Bühne sehe»!

Ob das dann geklappt hat, entzieht sich meiner Erinnerung. Ein solcher Austausch war eben noch möglich, im vordigitalen Zeitalter.

Postfachvideo: vimeo.com/10746742

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