StartseiteMagazinGesellschaftEin bosnisch-schweizerisches Musikfest

Ein bosnisch-schweizerisches Musikfest

Der Schweizer Chor Interkultur veranstaltet gemeinsam mit dem bosnischen Chor Pontanima einen Kulturaustausch der gesungenen Art. Vier Konzerte in Luzern, Zürich und Chur sind geplant.

Geistliche Gesänge mit dem weitestmöglichen Fokus haben zwei Chöre – einer in Chur und Zürich, der andere in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, geübt und bei einer Chorwoche in Bosnien zusammen einstudiert. Vier Konzerte wurden aufgeführt, zwei in Tusla in einem Kulturzentrum sowie anlässlich der Verleihung eines nationalen Literaturpreises und zwei in Sarajevo, letzere für unsereiner in ganz besonderen Konzertlokalen. Wir durften in der alten orthodoxen Kirche inmitten der Ikonen und Goldaltarbilder singen, später konzertierten die beiden Chöre gemeinsam im Haus der Armee, welches über einen historischen Konzertsaal verfügt.

Mehrere Dutzend Sängerinnen und Sänger, die sich trotz verschiedener Herkunft singend sehr gut verstehen, beim Auftritt in Sarajevo mit den beiden Chorleitern.

Und nun wird das Kulturaustauschprojekt in der Schweiz mit vier Konzerten fortgeführt und abgeschlossen. Es bleiben die Erinnerung an eine ungewöhnliche und überaus weit gespannte Klangwelt und es bleiben Freundschaften, denn Singen macht offen und friedlich gegenüber anderen. Musik ist – wie eine Freundin es formuliert – Nahrung für die Seele.

Bosnien und Herzegowina war die am härtesten umkämpfte Teilrepublik Jugoslawiens, als dieses um 1990 zerfiel. Serben und Kroaten hatten die Provinz kurzerhand auf der Karte unter sich verteilt, ein kleines Stück wollten sie den Muslimen überlassen. Sarajevo wurde von der Armee der serbischen Bosnier umzingelt und drei Jahre belagert, ohne Eingriffe der internationalen Truppen von Uno und Kfors. Die Stadt versuchte trotz täglicher und nächtlicher Angriffe durch Scharfschützen und Artillerie auf alles, was sich bewegte und nicht zu den internationalen Truppen gehörte, möglichst normal weiter zu funktionieren. Ein Tunnel war die einzige Verbindung zur Aussenwelt.

Turm und Minarett von Gebetshäusern für Christen und Muslime vereint im Stadtbild von Sarajevo

Auf diesem Hintergrund wurde von einem Franziskaner Pater der Chor Pontanima gegründet. Einige Sängerinnen und Sänger haben Krieg und Belagerung miterlebt, viele junge Leute sind Chormitglieder geworden und versuchen, die Seelenbrücke – das bedeutet Pontanima – zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen mitzugestalten. Die Chorleiterin Alma Aganspahic kennt die Schweiz, sie ist mit ihrer Familie 1989 in die Schweiz gekommen und im Rheintal zur Schule gegangen, sie kann daher akzentfrei Mundart sprechen. Aber sie gehört zu jenen, die zurückgingen und versuchen, den verarmten und noch immer bedrohten Staat auf dem Balkan wieder aufzubauen.

Multikulturalismus wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Art Schimpfwort, weil viele darunter nichts als laissez-faire ohne Kontrolle und ohne Grenzen verstanden. Aber was der Franziskaner Ivo Markovic will, ist der Ausgleich, der Zusammenhalt der Menschen verschiedener Religionen durch Musik. Er sieht es für die zerstrittenen Nationalitäten, die monotheistischen Religionen auf dem Balkan so:

Stadtführung mit Chorleiterin Alma Aganspahic: Eine Rose von Sarajevo. Die Einschläge von Granaten haben auf dem Asphalt Spuren hinterlassen, deren Form vage an eine Blume erinnert. Die Bewohner markierten die Krater mit rotem Harz, um daran zu erinnern, dass an dieser Stelle ein Mensch zu Tode kam.

«Pontanima singt eine Symphonie der abrahamischen Religionen. Diese Symphonie ist sehr lebendig, weil sie aus verschiedenen Paradigmen besteht, die aber von einem Gottesbild geprägt sind. Im Konzert ordnen wir diese Paradigmen geschichtlich: Zunächst kommt das jüdische Paradigma: die Juden fühlen sich als auserwähltes Volk Gottes, letztlich die Kinder dieses Gottes, daher ist ihre Musik Spiel und Tanz vor und für diesen Gott. Für die Orthodoxen ist Christus als Auferstandener im Himmel erfahrbar, die Orthodoxen fühlen sich als himmlisches Volk, daher sind wir, wenn wir orthodoxe Lieder singen, Engel im Himmel. Dann kommt das islamische Paradigma: Im Islam ist Gott Allah ein absoluter transzendentaler Schöpfer, dem wir uns als seine Schöpfung nur ergeben können, darum sind wir irdischer Leib, wenn wir islamische Lieder singen, wir atmen mit vollen Lungen und Rhythmus. Der Katholizismus und danach der Protestantismus sind aus der Entdeckung des heiligen Franziskus aus Assisi entstanden, dass Jesus nicht nur göttlich ist, sondern auch ein Mensch, es bedeutete, dass das Paradies nicht allein im leeren Himmel, sondern auf Erden, in der Natur, im Mitmenschen, in der Freude des Lebens sein kann

An Ostern nach dem Krieg fehlten den Franziskanern die katholischen Sänger. Aber singen können alle Religionen, fand der Pater, die Muslime, die Katholiken, die Orthodoxen, die Juden und die Atheisten. Sie sind bis heute alle im Chor Pontanima vertreten. Freilich provoziert das, Pontanima kann nicht überall im Land auftreten. Aber Provokation ist auch Absicht, zum Beispiel wenn bei Pontanima die üblichen Regeln, dass beispielsweise Frauen in orthodoxen oder jüdischen Liedern keine Soli singen dürften, schlicht ignoriert werden.

Der Lehrer Mirsad Ciceklic, geboren 1961, hat durch den Gesang nach den Schrecken des Kriegs einen Ausweg gefunden: «Ich singe mit Pontanima, weil ich vom furchtbaren Krieg schwer traumatisiert war und danach meinen Gott wieder suchen musste. Den fand ich bei Pontanima und einem weiteren Chor, wo wir serbisch-orthodoxe Kompositionen singen.»

Kulinarisch in jeder Hinsicht verwöhnt wurden die beiden Chöre im grosszügigen Haus der Franziskaner

Und die Schweizer? Wir hörten und sahen die Nachrichten in den 90er Jahren, wir lernten Flüchtlinge aus Bosnien kennen, aber das gemeinsame Chorerlebnis hat viel Verschüttetes wieder aufgedeckt, aus schrecklichem Nachrichtenstoff bei der Begegnung mit den Chorpartnern tiefe Betroffenheit gemacht. Gabriella Riedi (70), die zwei der jungen bosnischen Sängerinnen beherbergen wird, erinnert sich an die Tage der Gemeinschaft im Priesterseminar der Franziskaner, wo der Chor Interkultur wohnen konnte und wo die Proben und viele gemeinsame Gespräche beim Essen oder abends stattfanden: «Wir wurden so wunderbar umsorgt und verwöhnt, so war die Konfrontation mit Sarajevo und seiner Geschichte umso entsetzlicher. Das sind Eindrücke, die bleiben. Im Grunde eine Katastrophe, dass Bosnien nicht in der EU ist und die Konflikte letztlich nicht gelöst sind.»

Es blieb zwischen den intensiven Proben Zeit genug, die Stadt und ihre Geschichte kennenzulernen, zumal die Stadtführungen von der bosnischen Dirigentin und einem der Sänger mit Fachkenntnis und Engagement geleitet wurden. Irritierend jedoch, wenn nach der Einführung ins komplizierte Regierungssystem mit den unterschiedlichen Nationalitäten oder Religionsgemeinschaften die Erstarrung eines pseudodemokratischen Systems zum Vorschein kommt und die Sehnsucht nach einem Macher wie Tito, dem es gelungen war, den Deckel auf dem Topf zu behalten und den Bosniern jeder Couleur das Leben zu ermöglichen. Und es bleibt das Erlebnis, wie offen, freundlich und zuvorkommend die Bevölkerung einem begegnet.

Was die Sängerinnen und Sänger der beiden Chöre erlebten, wollen sie in den Konzerten an ihr Publikum weitergeben, nämlich in der Begegnung voneinander zu lernen, einander zu respektieren und Vorurteile abzubauen. Denn: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dem Hass den Nährboden zu entziehen und Orte zu schaffen, wo Dialog möglich ist. «Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir einander begegnen» sagt der altpersische Sufi-Mystiker und Dichter Rumi. Musik kann einen Begegnungsort schaffen, denn Musik drückt aus, was Worte nicht immer ausdrücken können.

In Sarajevo verlief die Grenze zwischen West oder Wien und Ost oder Osmanischem Reich. Fortunat Frölich, Chorleiter des Chors Interkultur, und Alma Aganspahic, Dirigentin vom Chor Pontanima demonstrieren den friedlichen Kulturaustausch.

Das Liedprogramm ist so weit gespannt, wie geistliche Musik nur ermöglicht: Der vereinte 80köpfige Chor singt von gregorianischem Gesang über das Agnus Dei aus der Messe von Frank Martin oder alte jüdische Psalmen und arabische Lobgesänge auch spirituelle Chorlieder mit schweizerischen oder russischen Wurzeln. Musik kann Grenzen überwinden, mitunter auch die eigenen, denn die komplexe Veranstaltung I’m now, komponiert von Chorleiter Fortunat Frölich wurde bis zur Uraufführung von vielen Sängerinnen und Sängern zunächst abgelehnt und nicht verstanden. Aber das Publikum in Sarajevo erfuhr, was es war: eine Art Schöpfungsgeschichte, die Erfindung einer bessere Welt, wie einer der Besucher begeistert sagte.

Fotos des Konzerts © Chor Pontanima, Sarajevo;
übrige Aufnahmen: Eva Caflisch

Die Daten und Orte der Schweizer Konzerte:
Sonntag, 29. September: Jesuitenkirche Luzern 17 Uhr (Mitwirkung im Gottesdienst und Konzert)
Montag, 30. September: Predigerkirche Zürich, 19:30 Uhr
Dienstag, 1. Oktober: Predigerkirche Zürich, 19:30 Uhr
Mittwoch, 2. Oktober: Martinskirche Chur, 19:30 Uhr
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