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Zu Besuch bei Edith Hess

Sie wollte Bürofräulein werden, hat später Kinderbücher und Fachliteratur geschrieben, wurde Sozialarbeiterin, Familienfrau und Erwachsenenbildnerin. Mit gut 73 schrieb sie am Buch mit: «Die Reise ist noch nicht zu Ende: Seelische Entwicklung und neue Spiritualität in späteren Jahren». Jetzt ist sie 96 geworden.

Vor ein paar Jahren lernte ich Edith Hess im Rahmen einer Hilfeleistung des Zolliker Vereins Senioren für Senioren kennen. Sie hatte ein Tablet inklusive Support erworben, welches ein Zolliker Berater und Unternehmensentwickler extra für ältere Menschen ohne Computererfahrung entwickelt hatte. Leider gelang es nicht, das Start up erfolgreich an den Markt zu bringen. Die Firma wurde liquidiert. Zum grossen Bedauern von Edith Hess.

Seniorweb: Sie hatten nie mit einem Computer oder mit dem Internet zu tun, warum dieser Einstieg mit über 90?

Edith Hess: Ich will doch in Verbindung bleiben mit meiner Aussenwelt. Als diese Firma einging, war gerade mein Bruder Willy zu Besuch, der als Physikprofessor in Amerika lebt. Er sagte sogleich, er schenke mir ein iPad, das sei ganz einfach zu bedienen. Seither kann ich wieder Mails schreiben und vor allem täglich mit Willy über Skype sprechen. Sein Gehör ist noch schlechter als meins, aber wenn wir uns am Bildschirm sehen, geht das tiptop.

Aber beginnen wir am Anfang Ihres Lebens, 1923.

Also, geboren bin ich in Wallisellen, aber bald zogen wir nach Basel. Wir wohnten in einem Haus mit Garten und ich fuhr mit dem Velo zur Schule. Ich wollte immer wie meine Gotte ein Bürofräulein werden. Die beste Möglichkeit war vier Jahre Handelsschule bis zum Diplom.

Die Geschwister Haeberli in Basel: Lisa, Willy und Edith (von links)

Danach lernte ich im Welschland leidlich Französisch und bei meiner Rückkehr – es war ja während des zweiten Weltkriegs – mangelte es an gut ausgebildeten kaufmännischen Angestellten. Ich erinnere mich, wie der Chef des Fürsorgeamts zu uns nachhause kam und mich anwerben wollte. Warum ich ablehnte, weiss ich nicht mehr, jedenfalls nahm ich eine Stelle bei der Coop Leben und kurz darauf bei der damaligen Armenpflege an. Da lernte ich Chefs kennen – also unmögliche Leute, unmögliche! Ein Beispiel: Während des Kriegs kamen Auslandschweizer zurück, welche Unterstützungsansprüche hatten. Zu einem sagte einer der Chefs: ‹Ich sage Ihnen nun nicht mehr Herr Doktor, wo Sie jetzt abhängig von uns sind.› Darauf meldete ich mich bei der Sozialen Frauenschule in Zürich, der späteren Schule für Sozialarbeit an.

Sie waren dafür noch zu jung – daher machten Sie während der Kriegsjahre ein Praktikum im Volksbildungsheim von Fritz Wartenweiler.

Das war die Zeit der Rationierung. Ich erinnere mich gut, wie ich jeden Morgen allen Mädchen – jedes hatte sein gelbkariertes Stoffsäckchen – je 150 Gramm Brot zuteilen musste. Dort war die Religion eher seltsam, ausserdem hatte man nur frei, wenn es grad passte. Ich erinnere mich, wie ich einmal nach zehn Tagen Arbeit – ich war müde und ausgelaugt – zur Leiterin ging und um einen freien Tag bat. Sie sagte zu mir: ‹Du hast keine feine Gesinnung, wenn du so etwas fragst.› Auch das hab ich überlebt (lacht).

Edith Hess absolvierte die Schule für Sozialarbeit in Zürich, hängte gleich noch eine Weiterbildung in kirchlicher Sozialarbeit an und trat eine erste Stelle beim Jugendamt Basel-Stadt an, wo sie anders als manche Kolleginnen und Kollegen das nötige Wissen für schwierige Fälle hatte. Damals begetnete sie bei einer Weiterbildungstagung ihrem späteren Mann , den sie eigentlich schon gekannt hatte.

Ich fand ihn zuvor an der «Soz» als Dozent für Recht furchtbar: Wenn wir sagten, man glaube, das stehe im ZGB, antwortete er kurz und bündig, Glaube-Liebe-Hoffnung – glauben geht nicht in der Juristerei, da muss man wissen! Nach der Tagung ging ich einfach wieder heim. Aber kurz darauf bekam ich eine Riesenschachtel mit Süssem von Sprüngli.

…und er wickelte Sie damit um den Finger?

Nein, aber der Anfang war schwierig, er war in Scheidung – ein Geschiedener? Was werden meine Eltern sagen, wenn ich mit so einem gehe. Als er zum ersten Mal zu uns heimkam und seinen Charme spielen liess, waren meine Eltern gleich hin und weg.

Damals gab es für die Schweiz zwei UNO-Stipendien für Weiterbildung in Amerika, eins bekam ich, wohl auch weil mein künftiger Mann mich in seiner Empfehlung  most promising social worker,  vielversprechende Sozialarbeiterin nannte. So war ich ein halbes Jahr weg und konnte mir überlegen, ob ich diesen Mann auch wirklich wollte. Bei meiner Rückkehr war das klar.

Glückliche Tage: Edith Hess-Haeberli hat ihreTochter Anna zu Besuch, die seit 30 Jahren als Übersetzerin in Italien lebt.

Die Heirat mit Max Hess, der seinen schwierigen neunjährigen Sohn in die Ehe brachte, veränderte das Leben von Edith massiv: Der Wohnort wurde Zollikon, sie blieb vorwiegend zuhause, war aber noch Tutorin beim Basler Jugendamt. Bald begannen Edith und Max Hess-Haeberli, der bei der Vormundschaftsbehörde arbeitete, gemeinsam Projekte und Kurse zu entwickeln, bei denen er den juristischen Teil übernahm und sie den sozialen und psychologischen Aspekt vertrat.

Aber Sie waren jahrelang vorwiegend Hausfrau und Mutter.

Zwei Jahre nach der Heirat kam Anna zur Welt. Wir mussten uns überlegen, wie reagiert der Sohn auf die Konkurrenz. Zum Glück waren wir von unserer Tätigkeit her vorbereitet. Kaum war ich schwanger, bezogen wir den Jungen in die Planung ein, er bekam auch ein eigenes Zimmer. Wenigstens entstand zwischen den beiden Stiefgeschwistern eine herzliche Beziehung. Trotz der Auslastung in der Familie lebte mein Wunsch nach Berufsarbeit in mir weiter.

Und Ihr Mann, förderte er Ihren Wunsch nach Berufstätigkeit?

Er behinderte ihn nicht. Teilweise arbeiteten wir ja gemeinsam an Projekten, verfassten auch Fachliteratur. Zu diesem Thema noch etwas Lustiges: Er zahlte mir auf ein Extra-Konto jährlich ein paar tausend Franken Kleidergeld. So musste ich nicht drum bitten. Wenn er mich jedoch beim Kleiderkauf begleitete, sagte er immer, an der Kasse zahle er, ich könne ihm das Geld nachher zurückgeben.

Ihre Büchergestelle sind voll Literatur und auf dem Tisch liegt das Buch über Zwingli von Franz Rueb. Ihre Lektüre?

In diesem Jahr sollte man wirklich ein Zwinglibuch lesen, aber abends, wenn ich es mir mit dem Buch gemütlich machen will, bin ich so müde, dass ich gleich im Sessel einschlafe. Ich wünschte mir, ich hätte mehr Zeit zum Schreiben und Lesen. Geschrieben hab ich immer, aber ich hätte einfach Lust, einiges noch auszuformulieren, einfach für mich. Bücher machte ich ja früher schon.

Das Kinderbuch ist 1972 erschienen und war jahrelang ein Bestseller

Das erste war das Kinderbuch: «Peter und Susi finden eine Familie». Diese Geschichte einer Adoption sollte zeigen, dass Kinder früh und ohne Schaden erfahren können, dass sie nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Also eine Art Aufklärungstext in Gestalt eines Kinderbuchs, sehr schön illustriert von Jacqueline Blass.

Schon vor der Heirat und danach erst recht schrieb ich Sachartikel zur Sozialarbeit, publizierte da und dort, und das letzte – man sagt ja, man sollte in seinem Leben ein Kind gebären, ein Haus bauen, ein Buch schreiben und einen Baum pflanzen – das letzte Buch schrieb ich zusammen mit dem Psychotherapeuten Karl Guido Rey, der mich dazu ermunterte. Es heisst «Die Reise ist noch nicht zu Ende». Es gab sogar eine zweite Auflage.

«Auch in den späteren Jahren wird Leben reich und spirituell weit, wenn wir mutig den seelischen Aufbruch zu neuen Ufern wagen,» steht im Klappentext des Buchs. Es ist antiquarisch noch erhältlich.

Also: Buch hab ich geschrieben, Kind hab ich auch, Haus hab ich auch, nur einen Baum pflanzte ich noch nicht, aber es stehen ja welche im Garten.

Gehen Sie noch ausser Haus?

Allein nicht, ausser dass ich möglichst jeden Tag unten auf dem ebenen Privatsträsschen eine halbe Stunde auf- und abgehe. Das ist ein gutes Training. Ich hab auch täglich ein paar Stunden eine Haushilfe, denn jede Bewegung ist mit Anstrengung verbunden. Jedoch schlafe ich sehr gut, ein Glück im Unglück!

Sie reden von Unglück?

Ich dachte, ich sei gut vorbereitet auf das Alter, aber da ist noch vieles, das man im Voraus nicht weiss. Ich lebe jetzt in einer Phase des kontinuierlichen Niedergangs. Ich habe das Gefühl, mein Gehirn verliere Substanz. Nicht dass das Auswirkungen auf meinen Alltag hätte. Ich bin nie verwirrt, wenn ich auch manchmal lange brauche, eine Aufgabe zu lösen.

Sie sind doch sehr flexibel, beispielsweise wenn wir einen Termin ändern müssen.

Das ist mir wichtig und ich pflege das auch. Als ich im Pflegeheim drei Wochen Ferien machte, merkte ich, ich muss gefordert werden. Ich tat gar nichts mehr, nicht einmal lesen oder schreiben, sondern ha aifach vor mii anebblööterlet. Da wurde mir klar, wenn ich in ein Heim ginge, wäre ich in kürzester Zeit völlig inaktiv. So ist das Leben zwar mühsam, ich muss viel organisieren, aber das hält mich beweglich.

Sie sind schon viele Jahrzehnte verwitwet. Wie kamen Sie mit dem Tod Ihres Manns zurecht?

Er starb 1986, er war lange krank und ich konnte mich darauf einstellen, dass ich allein zurückbleibe. Es ist ein Privileg, wenn man gut allein leben kann. Damals suchte ich mir eine Psychotherapie, weil ich fand, aus mir könnte noch mehr werden, ich hätte meine Fähigkeiten nicht ausgeschöpft. Es war eher Reifungshilfe oder Beistand zur Selbstentfaltung, woraus dann das erwähnte Buch hervorging.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihr Leben – sind Sie zufrieden?

Ich bin eine Perfektionistin, verlange noch immer zuviel von mir, aber ich lernte, dass man auch auf das Urteil anderer bauen kann. Ich weiss, dass mein Leben ein Ende hat und ich finde das auch gut so. Am liebsten würde ich – wie die meisten es möchten – über Nacht im Schlaf sterben. Meine Grossmutter pflegte zu sagen: weisst du, ich gehe abends zu Bett und am nächsten Morgen merke ich, dass ich tot bin. Aber so stirbt nur ein Prozent aller Menschen.

«Mir ist nie langweilig, es ist ein Privileg, wenn man gut allein leben kann.»

Meine Tochter fragte mich kürzlich, sag, wenn es ans Sterben geht, möchtest du mich dabeihaben oder lieber nicht? Das ist doch sehr schön, dass jemand eine solche Frage stellt, so konnten wir gemeinsam übers Sterben reden.

Was man tun kann an Vorbereitungen, das habe ich gemacht. Testament, Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung. Ich hab es gut, ich hab meine Familie, Freundinnen und Bekannte, und ich habe keine grösseren materiellen Sorgen. Ausser wenn ich gerade etwas Unangenehmes erlebt habe, bin ich zufrieden. Zufriedenheit ist doch etwas.

Fotos: © E. Caflisch

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