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Von der Meeresschildkröte lernen

Der Autor John Strelecky nennt sein Buch «Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens». Die Buchhändlerin hat es mir empfohlen. Ich fragte sie nach einem Buch, einfach zu lesen, einfach zu verstehen, aber trotzdem gehaltvoll.

Nach heutigen Begriffen ist es ein uraltes Buch. Die deutsche Erstausgabe kam 2007 heraus. 2003 erschien die amerikanische Erstausgabe unter dem Titel «The Why Are You Here Café». Und es heisst im Nachspann: «Sein Buch eroberte schnell die Bestsellerlisten, wurde mittlerweile in 34 Sprachen übersetzt und ist weltweit bekannt». Ich werde in meinem Umfeld immer wieder nach dem Buch fragen und so feststellen können, wie weit die Schweiz zur «Welt» gehört!

Vorspiel

Der Autor spricht in der Ich-Form, entwickelt das Buch in Form von Gesprächen, die er im «Café der Fragen» mit dem Koch und Inhaber, der Servierfrau und einer Besucherin führt. Aber so einfach, wie ich es hier beschreibe, stiess er nicht auf den gastfreundlichen Ort.

Er hatte sich eine Woche Urlaub genommen, um «von allem wegzukommen», quälte sich auf einem amerikanischen Highway zentimeterweise vorwärts, bis schliesslich ein Polizeiauto in Sicht kam und die Polizistin die Wartenden über den Grund des Staus informierte. Ein Tanklastwagen mit potenziell toxischer Ladung sei ein paar Meilen entfernt umgekippt. Die Strasse sei komplett gesperrt. Umkehren, eine andere Strecke nehmen oder die Aufräumarbeiten abzuwarten, stünden zur Auswahl. Der Autor fuhr über den Mittelstreifen und in der Folge Richtung Süden, obwohl er eigentlich nach Norden wollte. Nach 28 Meilen tauchte schliesslich eine Ausfahrt auf. Aber, offenbar hatte er «die einzige Highway-Ausfahrt der ganzen Welt» erwischt, an der es weder Tankstelle noch Fast-Food-Restaurant noch sonst etwas gab. Auf der einen Seite nichts, auf der anderen Seite Leere!

Wer je auf amerikanischen Highways zu fahren und von dort auszufahren gedenkt, soll sich folgende Bemerkung zu Herzen nehmen: «Eine Stunde später hatte ich mich heillos verfahren. Die einzigen Kreuzungen, die ich überquert hatte, waren klein und mit der Sorte Strassenschildern markiert, die einem sofort klarmachen, dass man ein Problem hat. Wenn man 40 Meilen lang keinen anderen Menschen gesehen hat und die Strasse, auf der man sich befindet, mit dem Wort «Alte» beginnt, wie bei «Alte Landstrasse» dann sieht es gar nicht gut aus». Und dann noch die Information an die Leserschaft: «Mittlerweile war der Tank weniger als halb voll».

Das Café der Fragen

Rettung nahte. Das Licht einer Strassenlampe führte auf einen Kiesparkplatz mit drei Autos und zu einem weissen rechteckigen Gebäude, dem «Café der Fragen». Es war ein Lokal «wie ein amerikanisches Restaurant der fünfziger Jahre», renoviert und neu eingerichtet. Die Speisekarte enthielt die üblichen Angebote. Die Überraschung fand sich auf der Rückseite der Karte. Unter der Überschrift «Dinge, über die Sie nachdenken können, während Sie warten», hiess es: «WARUM BIST DU HIER?» «HAST DU ANGST VOR DEM TOD?» «FÜHRST DU EIN ERFÜLLTES LEBEN?».

In einem ersten Impuls wollte der Autor seine Jacke nehmen und wieder gehen. Etwas Spezielles ging von dem Ort aus, war es etwas Gutes? Aber er beschloss, zu bleiben und endlich etwas zu essen.

Und dann beschreibt John Strelecky in einer einfachen, fast kargen Sprache, wie die drei wesentlichen Fragen in wechselseitigen Gesprächen erörtert und abgehandelt werden. Auf Transzendenz gibt es keinen einzigen Hinweis. Es geht um die realen Erfahrungen in einem zumeist hektischen Leben. Auch die Besucherin am Nebentisch, Anne, schaltet sich ein. Aber die Fragen und Antworten werden immer wieder unterbrochen. Der Autor beschreibt, wie Casey, welche die Gäste bedient, zu Mike, dem Koch geht und ihm die Bestellung von John übergibt. Es entwickelt sich ein Prozess, in dessen Verlauf die Fragen nach ihren Antworten suchen. Die Antworten sind in den Menschen drin. Bei manchen ungeheuerlich verschüttet.

Letztlich geht es um das, was die kleine Gemeinschaft «Zweck der Existenz», abgekürzt ZDE, nennt. Die bekannte Geschichte vom Fischer wird erzählt. Er wurde aufgefordert, mehr Fische zu fangen, eine Fabrik zu eröffnen, Geld zu machen, sich damit zur Ruhe zu setzen und das zu machen, was ihm am liebsten war: fischen. «Das mache ich ja,» war seine einfache Antwort.

Casey erzählte, dass ihr eine der wichtigsten Erkenntnisse eine grosse, grüne Meeresschildkröte vermittelt habe. Sie war ihr beim Schnorcheln begegnet, als sie auf Hawai Urlaub machte. Und sie entdeckte, dass die Meeresschildkröte nie gegen die Wellen kämpfte, sondern diese für sich nutzte. Wenn eine Welle auf sie zurollte, setzte sie gerade soviel Kraft ein, um ihre Position zu halten. Wenn aber die Welle wieder zum Ozean hinausströmte, wusste sie die Bewegung des Wassers zu ihrem Vorteil zu nutzen.

All den existenziellen Fragen wird auch die Beschreibung des Frühstücks beigesellt, das sich John etwas spät am Tag bestellt hatte: Omelett, Toast, Schinken, Speck, frisches Obst, Bratkartoffeln mit Zwiebeln, Kekse, ein Portion Pfannkuchen. Ergänzt mit Gelee für den Toast, Sirup für die Pfannkuchen, Honig für die Kekse und Tomatensauce für das Omelett.

Das Buch ist vielschichtiger, als es im ersten Augenblick erscheint und von Root Leeb trefflich illustriert. Ich werde es ein zweites Mal lesen. Nein, ich werde mir den englischen Originaltext besorgen. Ich vermute, dass sich die vielen, manchmal kurzen Dialoge, in Englisch, in Amerikanisch anders anfühlen als in Deutsch.

Der Autor ist Amerikaner, geboren in Chicago und war 20 Jahre in der Wirtschaft tätig. Zusammen mit seiner Frau ging er auf eine monatelange Weltreise. Diese veränderte seine Sicht auf die Welt. Daran lässt er seine Leserschaft teilhaben.

John Strelecky, «Das Café am Rande der Welt». dtv Verlagsgesellschaft, München, 45. Auflage 2019. ISBN 978-3-423-20969-4

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