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Das Recht auf ein Kind?

Ungewollte Kinderlosigkeit wurde von der WHO 1967 als «Krankheit» anerkannt. Interessant bei dieser Benennung ist, dass damit nicht die funktionelle Unfähigkeit eines Menschen, reife Ei- oder Samenzellen zu produzieren oder ein Kind in einer Gebärmutter heranreifen zu lassen, als Krankheit definiert wird, sondern die ungewollte Kinderlosigkeit, ein unerfülltes soziales Beziehungsgeschehen. Das Leiden an einem nicht in Erfüllung gegangenen Lebenswunsch wird so medizinalisiert. Dadurch entsteht ein Anspruch auf die somatische Behandlung der Fortpflanzungsorgane, wenn funktionelle Störungen bestehen, und darüber hinaus auch auf die Hilfe der Reproduktionsmedizin bei ungewollter Kinderlosigkeit.

Bei der Debatte um ungewollte Kinderlosigkeit wird oft vom «Recht auf ein Kind» gesprochen. Kinder zu haben, wird damit zu einem Anspruchsrecht, d. h., der Staat hat ungewollt Kinderlosen soweit als möglich zu einem Kind zu verhelfen. Solche Leistungen müssten dann auch in die Grundversicherung aufgenommen und von dieser bezahlt werden. Sie erfahren nur noch insofern eine Begrenzung, als sie andere Menschen schädigen können, weshalb in der Schweiz z. B. Leihmutterschaft und Eizellenspende bis anhin nicht erlaubt sind. Deren Befürworter sehen darin eine ungerechtfertigte Bevormundung derjenigen, die dazu bereit wären. Derzeit wird auch über eine Uterustransplantation debattiert. Konsequenterweise müsste auch diese erlaubt sein, sofern keine Gefahr für das werdende Leben und/oder die Gesundheit der Mutter besteht. Ein ethisches Problem entsteht auch dadurch, dass bei mittels In-vitro-Fertilisation gezeugten Menschen erhöhte kardiologische und neurologische Risiken vermutet werden, die bisher viel zu wenig untersucht wurden. Bestätigt sich der Verdacht, müsste die gegenwärtige Praxis der künstlich erzeugten Kinder grundsätzlich infrage gestellt werden.

Mit der Reproduktionsmedizin wird viel Geld verdient. Das meiste davon fliesst den Reproduktionszentren zu. Leihmutterschaft in den USA kostet zwischen 110 000 und 160 000 Euro pro Kind. Ist so viel Geld im Spiel, erscheint die Gefahr gross, dass die Folgen der Maxime eines «Rechts auf ein Kind» einerseits in die Nähe des Kinderhandels geraten und andererseits zur Ausbeutung von finanziell schwachgestellten Frauen führen. So wurde in Indien die kommerzielle Leihmutterschaft 2016 verboten, nachdem über 300 Zentren entstanden waren und arme Frauen nachweislich ausgebeutet worden waren. Die Leihmutterschaft darf es bei indischen Frauen nur noch aus altruistischen Gründen und nur für indische Paare geben. Dies u. a. auch deshalb, weil «bestellte» Kinder von den Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch zurückgewiesen wurden, wenn sie nicht ihren Vorstellungen entsprochen haben.

Ein Recht auf ein Kind würde auch dazu führen, dass die reproduktionstechnologischen Möglichkeiten von der Allgemeinheit zu finanzieren wären und nicht reichen Paaren vorbehalten sein dürften. Von der Grundversicherung in der Schweiz anerkannt und finanziert wird bis anhin die medizinische Behandlung von funktionellen Störungen. Die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin hingegen, wie zum Beispiel die In-vitro-Fertilisation, müssen selber bezahlt werden. Der vorgebrachte Vorschlag einer Zusatzversicherung für die Situation einer ungewollten Kinderlosigkeit stellt keine Lösung des Problems dar. Denn nach wie vor erscheint die Frage, ob das Leiden an einem unerfüllten Kinderwunsch als gleichrangig bewertet werden soll wie das Leiden eines Menschen an einer physischen oder psychischen Erkrankung, als nicht beantwortet. Bejaht man dies, sind auch sozialethische Aspekte zu bedenken: Bereits heute sind die Leistungen im Gesundheitswesen kaum mehr zu finanzieren. In einem gerechten Gesundheitswesen sollten für alle die gleichen Rechte gelten. Auch wenn es zurzeit unrealistisch scheint, ist angesichts immer teurerer Leistungen in der Medizin ganz allgemein die Frage zu erörtern, ob in einem Gesundheitswesen auf Leistungen zu verzichten ist, wenn diese nicht allen zugänglich gemacht werden können.

Dr. theol. Ruth Bau­mann-Hölzle ist Leiterin der Stiftung Dialog Ethik

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