Chaos in Bagdad

Der Roman «Frankenstein in Bagdad» des irakischen Schriftstellers Ahmed Saadawi erzählt nicht nur vom bedrückenden Chaos der durch Bomben, Terrormilizen und mangelnder Staatsordnung gebeutelten Stadt, sondern auch von einem mysteriösen Wesen – Zeitkritik und Spannung pur.

Frankenstein kennen wir alle. Wer den Roman von Mary Shelley nicht gelesen hat, konnte die Geschichte des hochintelligenten Schweizer Studenten Viktor Frankenstein und seiner furchterregenden Kreatur in verschiedenen Filmen sehen. Die junge englische Schriftstellerin schrieb diesen Roman, ihren ersten, 1816, dem schrecklichen Jahr ohne Sommer. Sie und ihre Freunde, darunter Lord Byron und der Dichter Percy Shelley, hatten vorgehabt, den Sommer am Genfersee zu geniessen. Dort herrschten Kälte, Dauerregen und Schneefall, so dass die Gruppe gezwungenermassen im Haus blieb und Geschichten schrieb.

Über das Leben in Bagdad in den Jahren um 2005 wurden wir durch die Medien auch in der Schweiz leidlich informiert. Der Krieg der Amerikaner gegen Saddam Hussein war zwar beendet, aber Ordnung gab es keineswegs. Die Menschen litten vor allem unter zahlreichen Bombenanschlägen von verschiedenen Terrorgruppen und unter der Unfähigkeit, im Irak wieder eine stabile Regierung aufzubauen. Dies der Hintergrund des Romans. Die Stadt zerfällt immer mehr. Die Einwohner versuchen zu überleben, jeder mit seinen Mitteln. Oft genug sind es nur noch Ruinen, in denen sie leben. Mit den Gebäuden geht nach und nach auch der traditionelle Zusammenhalt der Menschen aus verschiedenen Volksgruppen in die Brüche.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Bagdad, der Irak ebenso wie Syrien und der Libanon seit jeher von Menschen verschiedener Nationen und Religionen bevölkert war, die tolerant nebeneinander lebten. Auch davon handelt der Roman. Da haben alte Frauen wie Elischwa, eine orthodoxe Christin, ihren Platz neben ihrem Nachbar Hadi, dem Trödler und «Märchenerzähler». Elischwa geht regelmässig zur Kirche, dort kann sie, die kein eigenes Telefon besitzt, mit ihren beiden Töchtern sprechen, die in Australien leben. Diese versuchen, Elischwa zu bewegen, zu ihnen auszuwandern, was Elischwa strikt ablehnt, denn sie wartet immer noch auf die Rückkehr ihres Sohnes Daniel aus dem irakisch-iranischen Krieg 1980-88.

Der Autor Ahmed Saadawi. Foto: Safa Alwan

Frankenstein in Bagdad ist ein Altwarenhändler, Hadi, mit vollem Namen Hadi Hassani Aidros, er lebt mehr schlecht als recht von dem, was die Menschen, die Bagdad verlassen, zurücklassen. Er sitzt gern im Kaffeehaus und erzählt stundenlang Geschichten, die er zumeist erfunden hat oder sich zurecht gebogen hat, und freut sich über seine Zuhörer, die sich über ihn amüsieren. Wie Hadi zu einem «Frankenstein» wird, ist derart skurril, dass es hier nicht vollkommen verraten werden soll. Hadi erzählt davon im Café, aber das kann niemand glauben. Ein Trödler sammelt eben nicht nur Dinge, die er verkaufen kann.

Auch Elischwa ist an der Erschaffung des Monsters noch beteiligt. Mit ihren alten schlechten Augen kann auch ein schrecklich aussehendes Wesen so aussehen, als sei ihr vermisster Sohn zurückgekehrt. Ein junger Wächter, der bei einem Bombenanschlag ums Leben kommt, spielt bei der Kreation des Monsters auch eine Rolle. Alle, die dem Monster begegnen oder darüber schwatzen, nennen es mit einem Schaudern «der Soundso». – Bei Mary Shelley heisst es «creature», nur Elischwa nennt es Daniel. Und es verbreitet nun immer mehr Angst und Schrecken.

Der Autor erzählt nicht nur die Geschichte des Monsters, sondern verwebt sie in das Leben der Stadt. Journalisten sind besonders geeignet, die Geschehnisse zu recherchieren und aufzuschreiben. Eine Hauptrolle nimmt Machmud Sawadi ein, wegen eines Streits war er aus seiner Provinz geflohen und hatte nun bei der Zeitschrift «Die Wahrheit» eine Stelle gefunden. Was er mit seinem Chefredakteur al-Saidi erlebt, zeigt eine andere Seite des zerfallenden Bagdad: Korruption und schamlose Ausnutzung der eigenen Vorteile. Eines Tages setzt sich al-Saidi in den Libanon ab, wohin er vorher schon sein Vermögen verschoben hat.

Eine weitere Facette des Lebens in Bagdad verkörpert der Immobilienhändler Faradsch, der skrupellos aus dem Unglück seiner Mitbürger Profit zu ziehen versucht. Wer an seinem Haus so grosse Schäden hat, dass er die Reparatur nicht mehr bezahlen kann, dem kauft Faradsch es für wenig Geld ab. Und dann gibt es auch noch den Geheimdienst, der sich als Amt für Beobachtung und Beurteilung kaschiert und sich in seiner plumpen Unfähigkeit aus Saddams Herrschaft hinübergerettet hat.

Der Roman lebt von der Kritik an den irakischen Verhältnissen, er zeichnet das Leben in Iraks Hauptstadt scharf und satirisch, aber auch voller Zuneigung für die kleinen Leute, die dem blutigen und zerstörerischen Geschehen hilflos ausgesetzt sind. Für Elischwa findet sich mit einem witzigen Trick ihrer Tochter noch ein angenehmes Ende. Auch der Journalist Machmud Sawadi wird neu beginnen und wieder zurückkehren. In Bagdad zu bleiben, darin liegt für niemandem eine verlockende Zukunft.

Ahmed Saadawi wurde 1973 in Bagdad geboren, wo er auch heute als Schriftsteller, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer lebt. Er hat bislang drei Romane veröffentlicht und war einige Jahre als BBC-Korrespondent tätig. Für Frankenstein in Bagdad wurde Saadawi als erster irakischer Autor mit dem renommierten International Prize for Arabic Fiction ausgezeichnet. Der Roman, im Original schon 2013 erschienen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Die Übersetzung von Hartmut Fähndrich zeichnet sich durch eine klare, leicht verständliche Sprache aus. Man liest das Buch mit atemloser Spannung. Sehr nützlich ist das Personenverzeichnis zu Beginn, denn unsere europäisch trainierten Gehirne gewöhnen sich nicht so schnell an die arabischen Namen. Besonders zu empfehlen ist Fähndrichs Nachwort, auch als Vorwort zu lesen, in dem der langjährige Förderer arabischer Literatur sowohl den Mythos des künstlichen Menschen als auch einige Hintergründe des Romans erläutert.

Saadawi, Ahmed: Frankenstein in Bagdad. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Verlag Assoziation A Berlin / Hamburg 2019. 296 Seiten. ISBN 978-3-86241-472-7; auch als E-Book erhältlich.

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt von artlink, Büro für Kulturkooperation, das mit litprom verbunden ist. Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

Nachtrag: Wer sich für Bagdad und den Irak in der jüngeren Vergangenheit interessiert, dem sei ein kürzlich erschienenes Buch empfohlen: Abbas Khider: Palast der Miserablen. Dieser deutsch-irakische Schriftsteller beschreibt das Bagdad der 1990er-Jahre bis ca. 2003. Abbas Khider kam im Jahr 2000 als Flüchtling nach Deutschland und hat sich seitdem unsere Sprache so gut angeeignet, dass er seine Bücher auf Deutsch schreibt.

Titelbild: Werbeplakate an einem Bagdader Einkaufszentrum im April 2005 / commons.wikimedia.org

Interview mit Hartmut Fähndrich

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