Die Schrift gehört zu den wichtigsten Kulturleistungen des Menschen. Lena Zeise, Designerin und Illustratorin, widmet ihr Buch «Schreibschriften. Eine illustrierte Kulturgeschichte» besonders den Handschriften.
Den Anstoss gab ein Poesiealbum aus dem frühen 20. Jahrhundert, das Lena Zeise auf einem Flohmarkt gefunden und gekauft hatte, obwohl sie die handschriftlichen Verse und Einträge gar nicht lesen konnte. Die Freundinnen der Poesiealben-Besitzerin – fast nur junge Mädchen besassen ein solches Erinnerungsbuch, – hatten nämlich in der damals üblichen deutschen Sütterlin-Handschrift geschrieben, die sich von der heutigen Schrift mit lateinischen Buchstaben stark unterscheidet.
In der Schweiz übrigens wurde bis anfangs des 20. Jahrhunderts die deutsche Kurrentschrift gelehrt, nicht die ähnliche Sütterlin-Handschrift, und alte Bücher in deutscher Schrift aus dem 16. – 19. Jahrhundert konnte man wohl im ganzen deutschen Sprachraum finden.
Die Autorin Lena Zeise hat das Buch selbst gestaltet, der Satz sowie alle Illustrationen, viele liebevolle Zeichnungen, stammen von ihr selbst. Entstanden ist ein wunderschöner Band, der dem Thema gerecht wird. Die junge Frau, geboren 1992 – was ihrer Handschrift anzusehen ist -, lebt im westfälischen Münsterland. Sie hat ein Designstudium mit Schwerpunkt Illustration und Kommunikationsdesign an der Münster School of Design, der Fachhochschule Münster, absolviert. Das vorliegende Buch ist nach ihrer eigenen Aussage «eine Liebeserklärung an die Kursivschriften», d.h. an Schreibschriften, die alle Buchstaben eines Wortes untereinander verbinden, im Unterschied zu Schriftarten in Büchern. – Schweizer Kinder sagen dazu «Schnürli-Schrift».
Die Errungenschaft «Schrift» ist für die Menschheitsgeschichte ein so wesentlicher Schritt, dass sich darüber zahlreiche Bücher schreiben liessen, von Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachbereiche. Im Hinblick darauf fasst Lena Zeise die Jahrtausende alte Geschichte der Schrift nur in einigen kurzen, aber zugleich kurzweiligen Abschnitten zusammen, denn von Hand geschriebene Zeugnisse gibt es in der alten Geschichte nur wenige, abgesehen davon, dass in den frühen Zeiten alles von Hand gefertigt wurde, auch die Keilschrifttäfelchen oder die ägyptischen Hieroglyphen.
In Stein gemeisselt
Die Autorin weist darauf hin, dass schreiben aus dem lateinischen scrivere entstanden ist, was ursprünglich ritzen bedeutete, die Schrift wurde in Stein geritzt, Zeise erwähnt die Redensart «Die Sache ist geritzt». Wir kennen auch das ultimative «in Stein gemeisselt». Bücher entstanden seit dem Mittelalter in Schreibwerkstätten von Klöstern, dort kopierten geschulte Mönche tagaus tagein Texte von Hand. – «Neben der notwendigen Tatsache, dass eine Buchschrift lesbar sein musste, wurde seit jeher grosser Wert auf Schönheit und Regelmässigkeit gelegt», schreibt Lena Zeise dazu.
Mit dem Buchdruck, mit Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern, änderte sich die Herstellung und Verbreitung von Büchern. Aber noch lange nachher wurden wie seit Beginn des Mittelalters Urkunden und offizielle Erlasse von Hand geschrieben, in prächtiger Handschrift und mit Verzierungen. Neben solchen Abbildungen zeigt die Wiedergabe eines handgeschriebenen Briefs die Unterschiede: Hier werden Ligaturen eingesetzt, d.h. die Buchstaben eines Wortes werden miteinander verschmolzen. Diese «Verkehrs- oder Gebrauchsschriften» erlaubten ein rascheres Schreiben. Alte Chroniken sind so geschrieben und dann, seit der Romantik, Tagebücher.
Die schöne Handschrift
Stets bestand eine wechselseitige Beziehung zwischen zweckmässigen Schriften – im Handelskontor des Kaufmanns – und dem ästhetischen Anspruch bei der Niederschrift eines Gedichts oder eines Briefes. Schrift kann auch mit Kunst zu tun haben. Oft lässt sich eine männliche Handschrift von einer weiblichen Schrift unterscheiden. «Die Basis einer harmonischen, gleichmässigen Schreibschrift ist ihre flüssige, rhythmische Bewegung», schreibt die Autorin. Dazu gehört es auch, dass man den Schreibstift geschickt hält und dass man, sofern man noch mit einer Feder schreibt, weiss, wie man mit ihr am besten umgeht.
Reinschrift des Goethe-Gedichts: «Ginkgo Biloba» / commons.wikimedia.org
Da unsere Schrift direkt auf die römische Schrift, d.h. das Lateinische zurückgeht, ist ihr ein ganzes Kapitel gewidmet. Denn unser kursiv kommt aus dem Lateinischen correre, was laufen bedeutet. Kursivschrift, später Kurrentschrift, ist eine laufende Schrift, deren Buchstaben, wie erwähnt, untereinander verbunden sind. Kursivschrift war schon den Römern geläufig, wie Funde aus Pompei bezeugen. – Zur Entstehung der modernen Schrift gehört auch die Geschichte der Gross- und Kleinbuchstaben, ebenfalls ein spannender Abschnitt.
Viele grossformatige Abbildungen zeigen, wie wunderschön Bücher im Mittelalter gestaltet wurden. Die Vielzahl der Schriftarten, die seit dem 16. Jahrhundert geschaffen wurden, erstaunt uns Laien. Mit vielen Illustrationen und Bildern als Beispiel versteht man die Faszination für das Thema. Mich hat besonders der Abdruck eines handschriftlich notierten Liedes in Sütterlin-Schrift berührt – es hätte von meiner Mutter geschrieben sein können.
Rückzug der Handschrift?
Die Autorin widmet sich auch der Schreibmaschine, die, abgesehen von der PC-Tastatur, im 21. Jahrhundert nur noch Geschichte ist, und dem Schreiben mit verschiedenen Schreibwerkzeugen. Das führt sie dazu auszuführen, vor welchen Schwierigkeiten Schulanfänger zuweilen beim Erlernen des Schreibens stehen. Davon abgesehen, ist Lena Zeise überzeugt, dass die Handschrift weiterhin Bestand haben wird für viele informelle Notizen, für Glückwünsche oder Beileidsschreiben – und für das Testament. Sie zitiert die Schriftstellerin Cornelia Funke, die jede Erstversion ihrer Bücher von Hand schreibt: «Eine fliessende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliessen.»
Wie sieht Lena Zeise die Zukunft des Schreibens? «Schriften waren früher und sind auch heute noch mit dem Begriff der Identität verbunden», schreibt sie und fährt fort: «Heutzutage führt die Handschrift ein Nischendasein, aber dort kann sie sich behaupten! Solange Bedarf und Nutzen vorhanden sind, stirbt die Handschrift nicht aus.» Und schliesslich verweist sie darauf, dass sich im Laufe der Geschichte vieles an der Schrift geändert hat und sich auch in Zukunft wandeln wird, aber eine Renaissance der Schreibschriften könnte doch möglich sein.
Lena Zeise: Schreibschriften. Eine illustrierte Kulturgeschichte. Haupt Verlag 1. Auflage 2020. 208 Seiten, durchgehend farbig illustriert. ISBN: 978-3-258-60215-8
Titelbild: Posiealbum Foto: Ulrike Mai / pixabay.com/de