FrontKulturAuf das Schauen kommt es an

Auf das Schauen kommt es an

Das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen widmet dem Schweizer Bildhauer Hans Josephsohn anlässlich seines 100. Geburtstags eine Einzelausstellung. Unter dem Titel «Schauen ist das Wichtigste» werden Werke aus den 1950er bis in die 2000er Jahre gezeigt.

«Schauen ist das Wichtigste», soll Hans Josephsohn seinen Atelierbesuchern häufig gesagt haben. Bei seiner Arbeit sei er von Zeit zu Zeit zurückgetreten, habe sein Werk angeschaut und beim Weiterarbeiten auf seine Intuition vertraut. Die Besucherin tritt in den Saal und erblickt in der Mitte eine kraftvolle liegende Skulptur, der Kopf fast übergross, ein starker Körper – beim Näherkommen scheinen die festen Strukturen aufzubrechen. Die Oberfläche der Skulptur scheint aus übereinanderliegenden Bruchstücken zusammengesetzt, sie erinnert an die Rinde eines Baumes, dessen Lebensgeschichte nicht nur in den Jahresringen, sondern auch an seiner Rinde abzulesen ist. Spiegelt nicht auch die Haut des Menschen einen Teil seines Lebens?

Blick in die Ausstellung, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Aus der Nähe erkenne ich, dass die schuppenartige Oberfläche der Skulptur vollkommen von Zeichen, Mustern und Markierungen bedeckt ist, als ob sich alle Erfahrungen, alle Freuden und Leiden aus dem Gedächtnis nach aussen gestülpt hätten. Liegt da der Grund für die auffallende Grösse der Figuren: Tragen sie alles Immaterielle ihres Lebens mit sich?

Hans Josephsohn, Ohne Titel (Verena), 1990, Messing  © Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Sein Leben lang setzte sich Josephsohn mit dem Menschen als lebendigem Wesen auseinander – zumeist arbeitete er mit weiblichen Modellen. Während in seinen frühen Jahren figurative Formen überwogen, reduzierte und fragmentierte der Künstler die Figuren immer weiter; so kam es, dass Kunstexperten sein Schaffen als existenzielle Plastiken bezeichneten.

Hans Josephsohn gehört zu den herausragenden europäischen Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1920 in Königsberg als Teil einer jüdischen Familie geboren. Nach dem Abitur 1938 konnte er mit einem Stipendium nach Florenz reisen, denn in Deutschland war den Juden damals ein Studium verwehrt.

Jedoch konnte er auch im faschistischen Italien nicht bleiben. Er zog 1939 in die Schweiz und studierte, lebte und arbeitete seitdem bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in Zürich. Dort war er Schüler des Zürcher Bildhauers Otto Müller (1905 – 1993), der wiederum im Atelier von Karl Geiser (1898 – 1957) gearbeitet hatte. Diesen lernte auch Josephsohn kennen. In späteren Jahren konnte er nach Italien reisen, wo er sich besonders für die etruskische Kunst interessierte.

 

Portrait Hans Josephsohn   © Foto: Katalin Deér, Kesselhaus Josephsohn

Die jetzige Schaffhauser Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Kesselhaus Josephsohn und zeigt Werke aus verschiedenen Schaffensperioden. – Das Museum zu Allerheiligen hatte dem Bildhauer 1975 eine erste grosse Ausstellung gewidmet, damals die zweite Einzelausstellung des Künstlers überhaupt. Sie fand zu einem Zeitpunkt statt, als das Werk des Bildhauers umstritten und wenig anerkannt war. Dauerhaft ausgestellte Werke von Hans Josephsohn befinden sich seit 1992 im kleinen Museum La Congiunta in Giornico TI und seit 2003 im Kesselhaus Josephsohn in St. Gallen.

Hans Josephsohn schätzte den Gips, denn er ermöglichte ihm, prozessorientiert und flexibel zu arbeiten, d.h. ohne Mühe Material hinzufügen oder wegnehmen. – Mitte des 20. Jahrhunderts war Gips bei vielen Bildhauern verpönt. – Im Kesselhaus St. Gallen wurden Josephsohns Entwürfe gegossen, zumeist in Messing. Dieser Guss beendete das dynamische Schaffen, die Arbeit stand von da an gefestigt im Raum.

Hans Josephsohn, Ohne Titel, 1962/1963, Stehender, 212 x 72 x 48 cm, Messing  © Josephsohn Estate und Kesselhaus Josephsohn / Galerie Felix Lehner, Foto: Katalin Deér, Kesselhaus Josephsohn

Die überlebensgrosse Figur eines Arbeiters ist eines der wenigen männlichen Motive im Werk des Bildhauers. Ein Arbeiter, der regelmässig an Josephsohns Atelier vorbeiging, inspirierte ihn. Fasziniert von der Kleidung und der Körperhaltung bat der Künstler ihn, ihm im Atelier Modell zu stehen. Entstanden ist dabei eine Figur, die abgearbeitet, erschöpft und vielleicht auch einsam wirkt, aber dennoch etwas Positives und Wohlwollendes ausstrahlt.

Der Ausstellungssaal mit seinen hohen Decken und dem schräg einfallenden Tageslicht eignet sich sehr gut für Josephsohns Werke: Die Skulpturen mit ihrer grossen Ausstrahlung erfordern grosse Räume, während die speziellen Oberflächenstrukturen bei Tageslichteinfall am stärksten wahrzunehmen sind.

Hans Josephsohn habe klassische bildhauerische Vorgehensweisen und Materialien mit neuartigen Formen verbunden und daraus ein unvergleichbares Œuvre voller natürlicher Kraft, Erhabenheit und innerer Ruhe geschaffen, erklärt der Kurator Julian Denzler. «Schauen ist das Wichtigste» umschreibt die suchende Haltung des Künstlers gegenüber seinem Werk. Josephsohns Motto soll die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung ermuntern, sich unvoreingenommen auf die Werke einzulassen und es dem Künstler gleichzutun: Neugieriges, suchendes Betrachten als Schlüssel zum Werk.

Felix Lehner, Kunstgiesserei Kesselhaus und Galerist in SG, spricht über seine Begegnungen mit dem Bildhauer Hans Josephsohn

Die Ausstellung im Museum zu Allerheiligen ist noch bis 15. November 2020 zu sehen.
Beachten Sie die Veranstaltungen, die nur mit Anmeldung zu besuchen sind.

Auch das MASI Lugano (Museo d’arte della Svizzera italiana) zeigt eine Schau der Werke von Hans Josephsohn bis 21.Februar 2021.

Titelbild: Blick in die Ausstellung, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Nachtrag: Am 28. 9. 2020 sendete SRF 2 Kultur die Wiederholung eines Interviews mit Hans Josephsohn, das zu seinem 85. Geburtstag geführt worden war.

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