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Bert Brecht und der liebe Gott

Geschenke gehören ebenso zum Weihnachtsfest wie Überraschungen. Von einer solchen erzählt «Das Paket des lieben Gottes», und zwar von einer mehrfachen.

Bertolt Brecht heisst der Autor der folgenden Geschichte, dies war zuerst einmal eine Überraschung für mich. Ehe ich das glauben konnte, recherchierte ich: Wirklich, der – wie ich meinte – bekennende Marxist, der Autor von «Mutter Courage», «Der gute Mensch von Sezuan» oder «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» hatte auch eine Weihnachtsgeschichte mit dem lieben Gott im Titel geschrieben.

Ob Brecht sich die Geschichte selbst ausgedacht hatte oder ob sie auf einer Anekdote beruht, die der Autor während seiner Jahre in Amerika vernommen hatte, konnte ich nicht eruieren. Das zu wissen, ist auch nicht wichtig. Denn es ist eine echte Weihnachtsgeschichte, sie berührt, wie es sich für dieses Fest gehört, sie hat Witz, wie wir ihn von diesem Autor kennen, und sie ist im unverwechselbaren Brecht-Stil geschrieben, weswegen ich zwar kürze, aber die wichtigen Absätze unverändert lasse.

Die Erzählung spielt im Jahre 1908 im Schlachthofviertel von Chicago, wo die Tagelöhner und Arbeitslosen ihre Abende verbringen, ohne Geld ausgeben zu müssen oder, wenn schon, so wenig wie möglich.

Und der Wind wehte scheusslich vom Michigan-See herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und warfen eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Strassen.

Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir sassen, so lange es irgend ging, mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab.

Weihnachtsstimmung auf dem Tiefpunkt

Am Weihnachtsabend fühlten sich diese Männer ebenso elend wie sonst, bis ein paar Übermütige mit etwas Geld in die Kneipe kamen und allen Anwesenden Whisky spendierten. Die Lust auf Spässe sprang über und man überlegte sich «Weihnachtsgeschenke»: für den Wirt einen Kübel schmutziges Schneewasser, für den Kellner eine leere Konservendose und für einen einsamen, schweigsamen Mann etwas Besonderes:

Es war nämlich unter uns ein Mann, der musste einen schwachen Punkt haben. Er sass jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, dass er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben musste. Aber jeder Mensch konnte sehen, dass er in keiner guten Haut steckte.

Genaueres wusste niemand, so nahmen die Witzbolde ein paar Blätter mit den Adressen von Chicagoer Polizeiposten und packten sie in eine herumliegende Zeitung, denn Geschenkpapier gab es keines.

Das Geschenk und die Überraschung

Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm zögernd das Paket in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf.

Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Mann nestelte eben an der Schnur, mit der das «Geschenk» verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die «interessanten» Adressbuchblätter geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder hatte ich niemals, weder vor- noch nachher, einen Mann so strahlend schauen sehen wir diesen Mann.

«Da lese ich eben in der Zeitung», sagte er mit einer verrosteten mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, «dass die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiss, dass ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte.» Und dann lachte er.

Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, dass der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum Morgen dauerte und alle befriedigte.

Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, dass dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.

Nachbemerkung: Was Bertolt Brechts Verhältnis zum lieben Gott angeht, fand ich folgende Zitate: Als ein Journalist im Gespräch mit dem Autor einmal äusserte, er sei ja wohl Atheist, wurde er von Brecht berichtigt: «Nein, ich bin religiöser Sozialist.» Und in einem anderen Interview wurde er danach gefragt, was er gern lese, Brecht antwortete: «Meine Lieblingslektüre? Sie werden lachen: die Bibel». – Wir können sicher sein, dass sich Brecht dazu seine eigenen Gedanken machte.


Hier finden Sie bereits veröffentlichte Beiträge der Serie „Weihnachtsgeschichten“, verfasst von den Redaktionsmitgliedern:

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1 Kommentar

  1. In diesem Zusammenhang: Bertolt Brecht war mein Lieblingsautor, vor allem seine Theaterstücke imponierten mir. Ein besonderes Interesse an einem Stück von Brecht war: «Mutter Courage und ihre Kinder.» Sofort übersetzte ich es ins Türkische, wobei mir mein Freund Muammer behilflich war. Besonders gelungen waren die Gedichte, die Muammer mit viel Geschick ins Türkische übersetzte.(Man sagt ja, dass Gedichte nicht übersetzbar seien…).Und ein türk. Komponist schrieb die Melodie zu ihnen. Und als das Stück literarisch «komplett» war, unterbreitete ich es dem Stadttheater Istanbul zur Prüfung. Es gefiel dem Dramaturgen, so dass die Theaterführung beschloss, das Stück aufzuführen. Und es brachte viel Erfolg. «Mutter Courage» spielte die berühmte Schauspielerin»Ani Ipekkaya», und es brachte viel Applaus. Ich muss gestehen, dass ich nicht wusste, dass Bertolt Brecht im Anschluss in Chicago «weilte» (wohl eine «Art von» Exil) und ich kann wohl bescheidenerweise Nachvollziehen, dass ein Autor von weltberühmten Kunst-, vor allem von Theaterwerken- überall in der Welt seinen Charakter -auch wenn unbewusst- in den Vordergrund rücken laesst. Leider konnte ich im «Berliner Ensemble» nie ein Werk von Brecht betrachten. Er ist aber für mich der allerbeste Autor der deutschen Sprache. Parallel zu ihm darf ich (in franz.) Jean Paul Sartre erwaehnen, den ich hoch schaetze. Abschliessend muss ich gestehen, dass ich mich leider nicht professionell mit Kunst befassen darf, weil mein eigentliches Gebiet Wirtschaft und Handel ist. Ich hoffe, dass Sie mein bescheidener Beitrag einigermassen zufrieden gestellt hat.

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