Fürs Theaterpublikum ein Phänomen: Schauspieler merken sich ellenlange Texte und wissen genau, wann sie drankommen. Was aber, wenn sie plötzlich nicht weiter wissen, also hängen bleiben? Gerlinde Vanet-Uhlig ist eine von denen, die über «Hänger» hinweghelfen.
«Mit 32 Jahren war ich seinerzeit die jüngste Souffleuse an der Pfauenbühne. Heute bin ich mit 71 Jahren die älteste. Mein letzter Einsatz war unlängst zur Schweizer Premiere von Das Weinen (Das Wähnen) – einer Inszenierung von Christoph Marthaler nach Texten von Dieter Roth. Danach war leider erst einmal Schluss wegen Corona.
Auch für Gerlinde Vanet-Uhlig hat der Arbeitsort Schiffbau in der Pandemie-Krise zum Treffpunkt mit Abstand mutiert.
Das Stück war in Hamburg bereits geprobt worden. Ich erhielt das Script 14 Tage vor meinem Einsatz – eine spezielle Aufgabe! Ich habe die Texte zu Hause laut gelesen, um mir die ungewöhnlichen Wortkonstruktionen, die Satz-Collagen, den dadaistischen Wortsalat dieses ‹Alleskünstlers› Dieter Roth einzuprägen.
Als Souffleuse muss man schnell und gut lesen und sprechen können. Wobei wir nicht flüstern, wie es das französische Wort souffler suggeriert, sondern den vorgegebenen Text gedämpft sprechen, möglichst monoton, ein bisschen wie ein Roboter. Gleichzeitig müssen wir das Geschehen auf der Bühne mit voller Konzentration beobachten und die Körpersprache der Schauspieler und Schauspielerinnen richtig deuten, um zu realisieren, wenn jemand plötzlich unsicher ist, wie’s weitergeht, also einen Hänger hat. Ich gebe dann jeweils das richtige Wort oder den Satzanfang.
Wie oft das vorkommt? Unterschiedlich, vor allem aber in den Proben. Im Gegensatz zur älteren Generation gehen die heutigen Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne ziemlich cool mit allfälligen Hängern um: Sie improvisieren einfach. Wichtig ist dabei aber, dass der letzte Satz stimmt, damit die oder der Nächste das Stichwort bekommt. Den letzten Satz gebe ich deshalb trotz Improvisation auf alle Fälle noch raus. Oder jemand sagt zu mir: ‹Das Soufflieren irritiert mich.› Dann respektiere ich das, mache mir aber an prekären Stellen ein Ausrufungszeichen und souffliere trotzdem, wenn nötig.
Ich komme ursprünglich vom Tanz her. Als gebürtige Deutsche aus Bremen habe ich an der Kölner Tanzakademie eine Ballett-Ausbildung absolviert, bis zu meinem 30. Lebensjahr Ballett getanzt, mich in Freiburg mit dem Solotänzer Guy Vanet verheiratet und später noch eine Ausbildung als Ballettlehrerin absolviert. Mit meinem Mann kam ich nach Bern.
Dort, am Atelier-Theater, wurde Anfang der achtziger Jahre eine Souffleuse gesucht. Ich wagte den Sprung ins unbekannte Wasser, weil ich aus gesundheitlichen Gründen meine Ballett-Karriere nicht weiterverfolgen konnte. Der Einstieg in das kleine, feste Ensemble war leicht. Ich erhielt eine Festanstellung und war bald auch zur Regieassistentin avanciert. Später verhalf mir Anne-Marie Blanc zum ersten Einsatz am Schauspielhaus Zürich, als eine Souffleuse erkrankte, die für das Stück Der Entertainer von John Osborne eingesetzt war.
Souffleuse Gerlinde Vanet-Uhlig im Gespräch mit seniorweb-Autorin Christine Kaiser.
Eigentlich wäre ich noch gern Opernsouffleuse geworden, aber dafür hätte ich Partituren lesen und Sprachen können müssen. Dafür reichte meine Chorerfahrung nicht. In diesem Beruf arbeitet man eng mit dem Dirigenten zusammen. Man hat noch mehr Verantwortung, muss den ganzen Text soufflieren, da das Orchester weiterspielt und der Text keinerlei Abweichung oder Verzögerung toleriert. Man dirigiert auch unter Umständen einzelne Passagen mit oder gibt den Solisten Einsätze. Diese Fähigkeiten habe ich – berufsbegleitend – nicht mehr erwerben können.
Dafür aber hatte ich das grosse Glück, viele spannende junge und ältere Persönlichkeiten der Theaterwelt kennenzulernen. Ganz besonders gern erinnere ich mich an Annemarie Blanc, Maria Becker, Christiane Hörbiger und Klaus Knuth, den Sohn von Gustav Knuth, und an so viele andere berühmte Bühnenkünstler, deren Namen ich gar nicht alle aufzählen kann. Und so bin ich auch nach meiner Pensionierung immer noch mit grossem Spass am Schauspielhaus im Einsatz.
Der Souffleurkasten als bester Sitzplatz im Theater. Gezeichnet von Veronika Weber.
Der Souffleur-Kasten ist vorne mittig in den Bühnenboden eingelassen: Man hat von dort aus die ganze Bühne und das Ensemble im Blick. Praktisch ist auch, dass man eine Wasserflasche neben sich abstellen kann, um einen eventuellen Hustenreiz mit einem Schluck zu beschwichtigen. Und man sitzt an einem schrägen Pult mit einer Leselampe. Einmal ist mir allerdings eine Schauspielerin fast in den Schoss gefallen. Sie trug auf der Bühne einen weiten Rock, der den Schacht für sie unsichtbar machte. Zum Glück ist nichts passiert.
Seit der Souffleurkasten am Schauspielhaus vor längerer Zeit abgeschafft wurde, sitze ich oft im Zuschauerraum, erste Reihe Mitte, mit einer Leselampe und dem Skript auf dem Schoss. Rechts und links von mir sitzen während der Vorführung Besucher, die mich interessiert beobachten. Oder mein Platz ist seitlich hinter dem Vorhang.
Die Variante mit Kopfhörern und Mikro wird am Schauspielhaus Zürich nicht genutzt. Diese Lösung ermöglicht es, nach einer notfallmässigen Umbesetzung einen kurzfristig eingesprungenen Schauspieler mit Empfänger im Ohr per Funkmikrofon direkt zu unterstützen. Die Souffleuse ist auch schon sichtbar in die Handlung integriert worden, indem sie kostümiert mit ihrem Skript direkt auf der Bühne sass, oder sogar – als inszenatorischer Gag – mit dem Textbuch hinter den Schauspielern her ging.
Natürlich gibt es über unsere Aufgabe auch eine Menge lustiger Anekdoten. So wird zum Beispiel erzählt, dass ein überlasteter Schauspieler in Die lustigen Weiber von Windsor schon beim ersten Satz steckenblieb. Die Souffleuse gab ihm den Anschlusssatz. Darauf der Schauspieler: ‹Keine Details. Das Stück, bitte!’»
Fotos: © Christine Kaiser
Souffleuse.Meine aeltere Tochter ist Schauspielerin/Darstellerung. Sie spielt von Herzen gern, wird leider aufgehalten von der ungeheuren «Corona».