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Eine fesselnde Familiengeschichte

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Feiertage eignen sich für dicke Bücher. So eines hat Patrizia Parolini geschrieben: «Almas Rom». Eine fesselnde Familiensaga zwischen der Ewigen Stadt und dem engen Puschlav. Spannend wegen der Geschichte. Und vor allem der Fähigkeit der Autorin, die Gefühle ihrer Protagonisten einzufangen und auszudrücken.

Es ist eine klassische Auswanderergeschichte. Eine Familie aus dem Puschlav zog nach Rom und betreibt dort eine Kaffeebar mit Bäckerei. Die Kinder, für die Rom Heimat ist, verbringen glückliche, römische Jahre. Dann wird der Vater krank. Um gesund zu werden, verordnet ihm der Arzt die klare Bergluft des Puschlavs. So zieht die ganze Familie mit Sack und Pack nach Poschiavo. Während es für die Eltern nicht nur Neuanfang, sondern auch Heimkehr ist, findet sich die eine Tochter gar nicht zurecht. Trotzdem führt Alma, die Protagonistin des Romans, fortan an verschiedenen Destinationen, auch im Puschlav, ein durchaus erfülltes Leben. Ihr Herz bleibt aber in Rom.

Die Autorin schreibt unterhaltsam und dicht. Nur schon die Übersicht über die vielen Personen, die in dieser kinderreichen Familie über mehrere Generationen hinweg vorkommen, ist anspruchsvoll. Die Autorin pendelt hin und her zwischen Fakten aus der Familiengeschichte und erzählten Elementen und Dialogen. Detailtreue ist ihr wichtig. So wird die Geschichte lebendig.

Allerdings ist es nicht nur die Story, die packt. Solche Geschichten kommen in vielen Familien vor. Die Stärke des Buches liegt in der Fähigkeit der Autorin, das Seelenleben ihrer Figuren, insbesondere der Alma, ihrer Eltern, Geschwister und ihrer Freundinnen einzufangen und uns zu erzählen. Eigentlich beschreibt Patrizia Parolini hauptsächlich das lebenslange Wechselbad von Almas Gefühlen. Geschichten und Orte bilden die Kulissen dafür.

Patrizia Parolini signiert ihr Buch.

Allerdings sehr spannende. Die Autorin erzählt so präzise, dass man sich ein genaues Bild machen kann von den Orten, wo Alma lebte: in Rom, im Puschlav, in Chur und in Arbon. Gerade hier wurde die Schweizerin, die sich als Römerin fühlte, von den italienischen Arbeiterfamilien, den Tschinggen, herzlicher aufgenommen als von den verschlossenen Einheimischen.

«Almas Rom» ist Patrizia Parolinis erster Roman. Wer ist die Autorin, weshalb erzählt sie uns diese Geschichte?

Seniorweb: Patrizia Parolini, wie lange haben Sie für das Buch recherchiert?

Patrizia Parolini: Es war im Jahr 2007 oder 2008, als in mir plötzlich, unerwartet und vehement die Frage auftauchte, wieso meine Grossmutter väterlicherseits in Rom geboren worden war und nicht in Poschiavo, wo mein Vater aufwuchs. Auf einmal interessierte es mich brennend, zu erfahren, was das bedeutete und wie es meiner Grossmutter erging, als sie 1911, mit 17 Jahren, Rom verlassen musste. In einem Alter, in dem ein Kind normalerweise beginnt, eigene Wege zu gehen, wurde meine Grossmutter auf ihre Familie und auf den Herkunftsort ihrer Eltern, ein „verlorenes“ Schweizer Bergtal, zurückgeworfen. Dieser Bruch in ihrem Leben hat mich stark beeindruckt.

Und wie packten Sie das Thema an?

Ich besorgte mir Bücher über Rom, einen Baedeker Reiseführer aus dem Jahr 1908, las Bücher von italienischen Schriftstellerinnen aus dem 19. Jahrhundert, sammelte Fotos, reiste mehrmals nach Rom, und vor allem überhäufte ich meinen Vater und meine Tante mit Fragen. Ich begann aufzuschreiben, was ich erfuhr, und nach und nach reifte die Idee, darüber ein Buch zu schreiben.

Fanden Sie noch weitere Quellen?

Im Lauf der Jahre bekam ich Briefe meines Urgrossvaters und meiner Grossmutter zur Verfügung gestellt, und schliesslich fand ich – welch ein Glück –, am Tag, als ich den Schlusspunkt unter die erste Fassung setzte, in alten Unterlagen ein Manuskript: Darin beschreibt der Bruder meiner Grossmutter seine Kindheit in Rom. Auf diese Weise bekam ich ganz viele zusätzliche und detaillierte Informationen über das Leben in der Via Merulana, mit denen ich meinen Text ergänzte.

Wie Sie sehen, verliefen Recherche und Schreiben nicht chronologisch, sondern parallel und ineinander fliessend. Ich habe das Manuskript mehrmals überarbeitet, bevor ich es im Jahr 2017, in einer zweiten Runde, mehreren Verlagen anbot.

Sich so lange mit einer einzigen Familiengeschichte zu befassen, ist ungewöhnlich. Was trieb sie an?

Ein grosses inneres Feuer und eine leidenschaftliche Freude am Schreiben!

Möglicherweise spielte zudem der Umstand eine Rolle, dass auch meine Eltern, beide Puschlaver, auswandern mussten – in die deutsche Schweiz – und dass auch ich als Tochter von den Folgen dieser Emigration betroffen war. Beispielsweise habe ich das Buch nicht auf Italienisch geschrieben, was naheliegend gewesen wäre, weil ich im deutsch- und romanisch-sprachigen Raum aufgewachsen bin und das Italienische für ein solches Projekt zu wenig gut beherrsche. Umso mehr freut es mich aber, dass der Roman jetzt übersetzt wird, und dass (hoffentlich) noch in diesem Jahr eine italienische Fassung im Verlag Armando Dadò herauskommen sollte.

Im Laufe der Zeit kam mir sicherlich auch meine zähe Ausdauer zugute und der Wunsch, das Buchprojekt auf jeden Fall zu einem guten Ende zu führen.

Wie ist es Ihnen gelungen, die Erzählung in den historischen Kontext zu setzen?

Ich habe mir mit dem Projekt ein ganzes Jahrhundert italienische und schweizerische Zeitgeschichte erschlossen. Dabei bin ich Themen nachgegangen, die ich unheimlich spannend fand: die Rolle und die Möglichkeiten der Frau, das Leben in der Stadt und auf dem Land (Rom hatte damals ca. 500‘000, das ganze Puschlav ca. 3700 Einwohner), Auswanderung und Rückkehr, Gesundheit und Krankheit (z.B. die Spanische Grippe 1918), die Stickerei-Industrie in der Ostschweiz, der Erste Weltkrieg und der darauffolgende Faschismus unter Mussolini, etc.

Welche Charakterzüge an Alma haben Sie besonders fasziniert?

Meine Grossmutter kam 1894 auf die Welt. Sie starb in Poschiavo, als ich sechs Jahre alt war. Mit Alma habe ich versucht, eine Figur zu schaffen, die der Person meiner Grossmutter nahe kommt. Man erzählte mir, dass sie, vor allem in ihrer Jugend, ausserordentlich schüchtern gewesen war, dass sie gerne schrieb und dass sie bis zum Lebensende eine grosse Sehnsucht nach Rom in sich trug. Im Verlauf meiner Recherchen habe ich zudem erfahren, dass sie ein grosses Gottvertrauen hatte, ein Vertrauen ins Leben, und eine gewisse Demut, die Lebensumstände zu akzeptieren, die sie nicht ändern konnte. Überrascht hat mich schliesslich ihre elegante Erscheinung; ich kannte sie ja nur als alte, zerbrechliche Frau mit weissem schütterem Haar, die den ganzen Tag in ihrem Sessel sass und nicht mehr sprach.

Fühlen Sie sich Alma verbunden?

Dazu möchte ich vorausschicken, dass wir, als ich Kind war, vor allem Kontakt zu den Grosseltern mütterlicherseits hatten. Wenn wir im Puschlav waren – und das waren wir mehrmals im Jahr – lebten wir im Haus dieser Grosseltern, wo auch Tanten und Onkel mütterlicherseits sowie unsere Cousinen und Cousins ein- und ausgingen.

Die Verwandten meines Vaters besuchten wir zwar, aber der Kontakt war weniger eng. Doch bei ihnen tauchten diese Tanten und der Onkel aus Rom auf, die jeden Sommer ins Puschlav kamen; das waren die Cousinen und der Cousin meines Vaters. Ihr italienisches Temperament und ihr wunderbarer römischer Akzent, geschliffen und immer etwas spöttisch, beeindruckten mich sehr. Sie waren so anders als wir, als die anderen Tanten und Onkel, doch wieso das so war, verstand ich damals nicht.

Die Arbeit am Buch hat mich sozusagen „eingebettet“ auch in die Familie meines Vaters, sie hat mir diesen Teil der Familiengeschichte erleben und verstehen lassen. Und so habe ich einen Teil meiner Herkunft in mein Bewusstsein holen können. In diesem Sinn, ja, fühle ich mich Alma sehr verbunden. Und: ich teile ihre Begeisterung für Rom!

Sie haben die Orte, wo Alma lebte, hundert Jahre nach ihr besucht. Hat das trotz des grossen Zeitintervalls geholfen, um Almas Gefühlswelt einzufangen?

Ja, das war sehr wichtig, insbesondere, was die Stadt Rom betrifft. Doch fast noch wichtiger waren die alten Fotografien, die mir beim Schreiben sozusagen als Bildvorlage dienten und mir das „Zeit-Reisen“ ermöglichten. Auf der Website www.romasparita.eu und www.romasegreta.it habe ich gezielt nach Fotografien von Rom aus jener Zeit gesucht. Dasselbe habe ich für Poschiavo auf www.istoria.ch (Archivio fotografico Valposchiavo und Archivio Luigi Gisep) und für Chur auf www.capauliana.ch gemacht. Über diese Online-Archive bin ich regelrecht und stundenlang in neue (alte) Welten eingetaucht. Was die Stadt Arbon betrifft, wo ein kleinerer Teil der Geschichte spielt, habe ich dem Buch „Arbon und Umgebung vor 75 Jahren“ von Mogensen viele Informationen zu früheren Zeiten entnommen.

Was hat dieser Suche bei Ihnen ausgelöst?

Die Bilder, gepaart mit weiteren (historischen) Informationen, liessen in mir Stimmungen, Gefühle und Ideen entstehen, die ich dann zu Papier brachte. So war es z.B. wichtig für mich zu wissen, dass sich Italien 1861 zu einem Nationalstaat vereint hatte, dass Rom erst 1870 Hauptstadt geworden war, worauf dort ein unglaublicher Bauboom einsetzte, und dass die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die Bell’Epoque, von Optimismus und vom Glaube an die Zukunft und den technischen Fortschritt geprägt war. Dies zeigte sich auch in Graubünden: Es war die Zeit, als die Albulabahn (Bau 1898-1904) und die Berninabahn (1908-1910) eröffnet wurden – und z.B. auch die Strecke Reichenau-Ilanz (1903) und Thusis-St. Moritz (1904).

Sie erzählen viele Faken ganz genau. Drückt da Ihr Beruf als Rechtsanwältin und Gerichtsschreiberin durch?

Sicher! Vor allem als Gerichtsschreiberin bin ich dafür verantwortlich, dass der vom RichterInnen-Gremium (in dem ich beratende Stimme habe) gefällte Entscheid den Parteien in Form eines inhaltlich, grammatikalisch und sprachlich einwandfreien Urteils ausgestellt wird. Da muss man sehr präzise arbeiten, ja manchmal muss man auch ein bisschen pingelig sein. Dass auch das literarische Schreiben eine grosse Achtsamkeit erfordert, habe ich bei Angelika Overath (einer deutschen Schriftstellerin, die in Sent lebt) in manch einem Schreibkurs, den ich bei ihr besucht habe, gelernt. Dabei habe ich auch gemerkt, dass mir das genaue Hinschauen und Formulieren sehr viel Spass macht.

Sind Sie noch als Anwältin tätig?

Im Beruf als Rechtsanwältin fühlte ich mich nie richtig wohl. Ich liess mich deshalb zur Mediatorin ausbilden, worauf meine Haupttätigkeit fortan in der Begleitung von Paaren in Trennung und/oder Scheidung lag. Bei dieser Tätigkeit habe ich gelernt, darauf zu achten, dass jede Person ihre eigene Sichtweise, jede Konfliktpartei ihre eigene Version der Konfliktgeschichte mit ihren je eigenen Bedürfnissen und Gefühlen hat, die ich zu respektieren habe. Diese Erkenntnis hat mir bei der Entwicklung der unterschiedlichen Charaktere und Lebensgeschichten der Figuren in „Almas Rom“ geholfen.

Wie vereinbaren Sie rein zeitlich Beruf und Schriftstellerei?

Anfangs war es für mich tatsächlich nicht so einfach, genug Zeit für das Schreiben zu finden. Ich arbeitete bis 2017 als Selbständige in einer eigenen Praxis, war aber damals schon nebenher als Gerichtsschreiberin für verschiedene Gerichte tätig, entweder im Auftragsverhältnis oder in kleineren Pensen. Als Selbständige habe ich mir zuerst jeden Freitagnachmittag, später den ganzen Freitag freigenommen, um zu schreiben. Oft, wenn ich gerade schön drin war in der Geschichte, schrieb ich am Samstag weiter. Später habe ich mir dann ab und zu eine einwöchige, einmal sogar eine dreiwöchige Schreibzeit herausgenommen. Seit 2017 bin ich nur noch als Gerichtsschreiberin tätig und dies in einem 60%-Pensum, was mir mehr Zeit gibt, um meinen Schreibprojekten nachzugehen.

Haben Sie neue Themen und Pläne?

Ja, ich habe zwei neue Projekte. Das eine sind Schreibkurse für Kinder und für Erwachsene. Sobald meine neue Homepage aufgeschaltet ist, wird es dazu mehr Informationen geben. Das andere ist ein Buchprojekt, mit dem ich erst in der Startphase bin.

Dann freuen wir uns darauf!

Ich habe mich sehr gefreut, dass ich mein Buch und meine Arbeit hier vorstellen darf! Herzlichen Dank dafür!

Titelbild: Patrizia Parolini mit dem Cover ihres Buches. Fotos: zvg.


Patrizia Parolini, «Almas Rom. Eine Puschlaver Familiensaga», erschienen im Orte Verlag, 9103 Schwellbrunn (3. Auflage 2020)

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