Ein Lebensweg ging zu Ende. Leda Maria verstarb im hohen Alter von 94 Jahren. Ihr grösster Wunsch habe Gott erfüllt: Sie durfte zu Hause sterben. Im «Schwyzerhüsli», wie das schöne im Chaletstil erbaute Haus heisst, erfüllte sich ihr reiches Dasein. Sie hatte vier Kindern das Leben geschenkt, wurde Grossmutter von neun Enkel und Urgrossmutter von Naisha und Ryan. Ihr Mann verstarb zwanzig Jahre vor ihr. Leda Maria Nardini kam aus der Provinz Udine nach dem Weltkrieg in die Schweiz und arbeitete in den Spinnereien Ägeri. Im «Mädchenheim», das die Firma baute, fand sie ein Zimmer, wie viele andere Italienerinnen und Österreicherinnen auch. Mädchenheim! Wie drollig und kindlich der Name für die jungen Fremdarbeiterinnen, die später etwas freundlicher Gastarbeiterinnen genannt wurden. Frisches, junges Blut kam ins Tal. Noch erinnere ich mich, dass damals eine Mutter beklagte, die fremden Frauen würden ihren Töchtern die jungen Männer wegheiraten. Wie auch Anton Andermatt, der sich in Leda verliebte.
Von meinem Haus aus habe ich den Blick auf Leda`s Garten und den Hühnerstall. An ruhigen, stillen Tagen konnte ich das Gackern der Hühner hören. Leda Maria arbeitete und werkelte sehr oft im Garten. Manchmal redete sie mit einer Nachbarin oder empfing ihre Söhne und die Tochter mit den Enkelinnen und Enkeln. Mit Gesten der Freude drückte die sonst so stille und bescheidene Frau jeweils die Kinder an sich. Dann kehrte jeweils für Stunden wieder glückliches junges Leben im Haus ein, in dem ihr Mann schmerzlich fehlte. Was gab es für die Mutter Schöneres! Sie hatte ihr Glück in der Schweiz gefunden. Auf der Sonnenseite vor dem Haus lag der Garten mit den Beeten, in dem das Gemüse gedieh. Wie von einer Schnur gezogen, lagen sie da und bewiesen, wie sorgfältig Leda Maria den Garten pflegte. Er grenzte an die alte Landstrasse. Leute gingen vorbei, standen still und bewunderten den Garten und die mit Geranien geschmückten Fenster.
Als die Andermatts in das Haus einzogen, lag vor ihnen noch eine hohe Hecke, die den Garten der Menzinger Schwestern vom «Frohbühl» einsäumte. Damals war diese Ecke noch ein Idyll. Heute ist das «Schwyzerhüsli» von Häuserblöcken umgeben und kommt gegen die Neubauten kaum auf. Und doch behauptet es seine Würde. Neue Nachbarn tauchten auf und neue Gespräche entstanden. Wir alle, die vorbeigingen, riefen «Leda!» und hängten das gewohnte «Wie gads dir?» an. «Manchmal rief ich: «Bon giorno, Leda.» Sie aber antwortete, auf den Fensterrahmen lehnend, in Schwyzerdütsch, und fragte: «Gasch furt?» Hatte ich Zeit, liess ich mich auf ein paar Worte ein, schaute dann auf die Uhr: «Ich muess pressiere, de Bus chunt!»
Mir gaben Ledas zufriedenes Strahlen und ihre Worte immer Freude mit auf den Weg. Oft dachte ich, wie schön es doch ist, dass Leda noch lebt, sie gehört zum Haus wie ein Baum, eingepflanzt für immer im Quartier. Sie hatte Zeit. Und heute, wo sie gestorben ist, fehlt sie allen, die sie kannten. Wer mit Nachbarn über ihren Tod spricht, hört: «Ja, ja die Leda, sie war eine liebe Frau, sie hat keinem Menschen je ein Haar gekrümmt.» Sie war eine stille, leise Instanz im Quartier geworden. Ich schrieb auf der Kondolenzkarte, dass ich sie nie vergessen werde. Dies war nicht einfach ein schöner Spruch, denn, wer sie kannte, wird sich stets an sie erinnern. Schaue ich auf das Hühnerhaus, kommt es mir stellvertretend wie ein stummes Denkmal für das Leben und Schaffen von Leda vor.
Leda Maria repräsentiert für mich Geschichte. Sie erinnert an den Weltkrieg und an die Not, die junge Frauen auf Arbeitssuche in die Schweiz führte. «Mädchenheim» – wie fremd klingt das Wort heute in den Ohren. Die Arbeiterinnen waren begehrt, und noch mehr begehrten sie die jungen Männer. Da in Italien die jungen Soldaten im Kriegs-Blut liegen blieben, lernten die junge Frauen rasch die schwierige Mundart kennen. Ihre Sehnsucht nach Italien stillten sie mit gelegentlichen Besuchen in ihren Dörfern und präsentierten ihre Schweizer Männer. Leda wurde aber so sehr Schweizerin, dass sie auf mein «Bon giorno» nie Italienisch antwortete. Ihr Italienisch war bald zu einer toten Sprache geworden wie einst das Latein den Römern. Leda aber lebt in unseren Herzen weiter.
Danke für den Beitrag. Übrigens, ein Lesetipp: Andreas Iten legt in seinem spannenden neuen Roman in subtiler Art und Weise seine Sorge um den Wald dar. Eingebettet in die Geschichte des Försters Balz Regli ist viel Wichtiges und Wissenswertes zum Zustand unserer Wälder. Ein eindrückliches Buch, poetisch und höchst interessant. Hier geht es zum Buch: https://www.buchhaus.ch/de/buecher/belletristik/schweizer/detail/ISBN-9783990185476/Iten-Andreas/Der-F%C3%B6rster?bpmctrl=bpmrownr.1%7Cforeign.490271-1-0-0
Andreas Iten bringt mit seiner warmherzigen Schilderung über die Geschichte der Leda Erinnerungen an eine Zeit des Aufstrebens in unserm Lande und der Freundschaften mit den fleissigen Italienerinnen, die sich in unserem Lande wohl fühlten und entsprechend anklimatisieren konnten. Zur gleichen Zeit arbeiteten im KMU von meinen Eltern Pina, Lucia und Maria. Wir lernten mit ihnen spielend ihre Sprache und meine Kindheit wurde durch die jungen Frauen sehr bereichert. Eine herrliche Erinnerung!