StartseiteMagazinKulturEin Wachtraum voller poetischer Bilder

Ein Wachtraum voller poetischer Bilder

Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger bekommt einen der wichtigen Kulturpreise im Kanton Zürich, den Kunstpreis Zollikon.

In ihrem neuesten Buch Späte Gäste schreibt sie von einer Rückkehr in die Vergangenheit der Ich-Erzählerin, wobei die Gegenwart – nicht nur die persönliche der Hauptfigur, sondern auch die Aktualität der Flüchtlingsströme Eingang finden, aber im Gegenzug auch an das Auswanderungsland Schweiz erinnert wird.

Ein Heimatroman aus einer ganz besonderen Liga ist Gertrud Leutenegger mit dem Buch Späte Gäste gelungen. Wer ihre Literatur regelmässig liest, kennt diesmal bereits die wichtigsten Figuren, mit denen sich die Erzählerin auseinandersetzt. Sie kehrt zurück in ein kleines Grenzdorf in der Südschweiz, um von Orion Abschied zu nehmen. Er war ihr Partner und der Vater des Kindes, mit dem sie – viele Jahre ist es her – eine von Spannungen geprägte Ehe lebte, und vor dem sie über den Gotthard floh, als das Zusammenleben mit dem genialen und erfolglosen Architekten ihr zuviel Belastung und zuwenig Freude wurde.

Während Orions Leichnam in der Kirche aufgebahrt liegt, durchlebt sie eine Nacht voller Erinnerungen, Ängste, Magie und Nachtmahren. Mit ihrer poetischen Prosa evoziert Gertrud Leutenegger das Einswerden von früherem Erleben im Dorf, der Rückkehr zur Trauerfeier, einer Nacht der Erinnerungen und Reflexionen über den Tod und die Vergänglichkeit, zu der auch der Rausch einer urtümlichen Fasnacht gehört.

Gertrud Leutenegger. Suhrkamp Verlag

Aber nicht etwa, dass da irgendwie schwadroniert würde. Leuteneggers Schreiben ist hochpräzis und ganz an der Wirklichkeit ihrer Figuren orientiert. Mit unangestrengter Leichtigkeit wechselt der Text – immer aus der Perspektive der Erzählerin – zwischen den Ebenen der Vergangenheit, des Traums in der Nacht der Totenwache und der Gegenwart: Ein Film aus Wörtern, in dem jeder Filmschnitt folgerichtig erscheint, auch wenn die Ebenen abrupt wechseln. Die Geschichte von den Schwalben, deren eine sich fürs Nest bei den Haaren der Madonnenstatue in der Kapelle bedient. Die Geschichte von der Eidechse, die nach vielen Jahren hinter Planrollen im Atelier wieder zum Vorschein kommt: «Die wohl im Todeskampf emporgereckten Händchen hatten etwas so Flehendes, dass das Kind in Schluchzen ausbrach.» So leicht und wie wenn es alltägliche Gedanken wären, erfindet Gertrud Leutenegger Symbole fürs Dasein, für Leben und Tod.

Die Frau verbringt die Nacht vor der Totenmesse in einer Villa, einem Gasthof, in dem sie mit dem Wirt, einem Emigranten aus Sizilien und dessen Mitarbeiterin Serafina von ennet der Grenze einst viele Stunden im Gedankenaustausch verbrachte. Das Gasthaus mit Loggia, Gartensaal, Festsaal darüber und Schlafkammern war einst auch Refugium, ein Fluchtort, den sie aufsuchte, wenn Orion, verloren im Alkoholismus ihr und dem Kind Gefahr bedeutete.

Kalt und unheimlich wirkt das in die Jahre gekommene Gasthaus zunächst. Der Schlüssel, den die Frau an sicherer Stelle weiss, ist nicht da, aber die Tür zum Gartensaal ist unverschlossen. Die Wirtschafterin feiert – wie jedes Jahr – im Nachbardorf ennet der Grenze die Fasnacht, bei der Schöne und Hässliche in rituellem Spiel unterwegs sind, der Wirt scheint in seiner sizilianischen Heimat zu sein, wo er – Emigrant in der Schweiz nun den Emigranten, welche in Schlauchbooten die Küste zu erreichen hoffen, erste Hilfe beim Überleben anbietet.

Die leeren düsteren Säle mit den Stukkaturen und Fresken – die Tell-Saga, eine Flucht- und Rettungsgeschichte, Tiere vielleicht aus der Arche Noah oder dem Paradies, welche ein Deckenmedaillon umgeben, Eckmedaillons mit den vier Jahreszeiten, die das Kind einst in Bann zogen, und schliesslich Orpheus mit der Lyra sind Erinnerungs- und Meditationskatalysatoren für die in dieser kalten Nacht überlebenden Frau bei ihrer Totenwache. Mit einemmal schwappt die Fasnacht, unheimliche Gestalten mit ihren Holzmasken in diese stillen und beklemmenen Stunden des unruhigen Wachens und Schlafens unter einer Felldecke herein.

Während die Frau die Kälte, die Geräusche, die düsteren Bilder um sich herum aufnimmt, ist das Kind – längst erwachsen – im Nachtzug unterwegs, und sie erinnert sich an seine Worte am Telefon, «leise und bestimmt, mit jener unbegreiflichen Kraft des Tröstens, die es von klein auf besass, jetzt wächst alles wieder zusammen.» Eingewebt in diese Nacht des geraubten Schlafs, der Träume und Erinnerungen an die Zeit mit Orion und dem Kleinkind im Dorf, aber auch an die Kindheit der Frau erstehen bruchstückhaft die Lebensgeschichten von Serafina und dem Wirt. Die tragische Existenz des verkrachten Architekten Orion wird zum immer wieder aufgenommenen roten Faden dieser Trauer- und Liebesgeschichte.

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Regie an der Schauspielakademie in Zürich. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Nach zahlreichen Aufenthalten in Florenz und Berlin lebte sie längere Zeit in Japan. Für ihre Bücher hat sie regelmässig Preise bekommen.

Titelbild: Ausschnitt des Buchcovers (Kostümentwurf von Bernard Daydé 1972 für Furie aus der Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck. Bibliothèque de l’Opéra Garnier, Paris)
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste. Roman. 174 Seiten. Suhrkamp Verlag 2020. IBAN: 978-3-518-42958-7
Am 13. Juni 2021 ist Gertrud Leutenegger der Zolliker Kunstpreis verliehen worden.

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