Die Ausstellung im Aargauer Kunsthaus gibt einen Überblick über das skulpturale Schaffen in der Schweiz seit 1945 und spiegelt das breite Spektrum der Ausdrucksformen; erfreulicherweise mit vielen Arbeiten von Frauen.
Den Auftakt macht die Büste eines älteren Herrn direkt neben dem Eingang zur Ausstellung. Der Porträtierte scheint in sich gekehrt, blickt die Eintretenden nicht wie ein Kontrolleur an, sondern wirkt eher traurig und ängstlich. Es ist das realistisch bearbeitete Selfportrait (Tears) von Urs Lüthi von 2020, ein dreidimensionales Zitat seiner Fotoarbeit Lüthi weint auch für Sie von 1971.
Ausstellungsansicht im ersten Obergeschoss. Foto: © Aargauer Kunstmuseum
Der Skulpturen Parcours beginnt im Kunsthausgebäude und führt über die Dachterrasse in den angrenzenden Rathausgarten. Die zweihundertdreissig Werke von hundertfünfzig Kunstschaffenden aus allen Landesteilen sind weitgehend chronologisch angeordnet. Der Begriff Skulptur ist sehr weit gefasst, traditionelle, avantgardistische bis postmoderne Arbeiten seit 1945 bis heute.
Ausstellungsansicht: Saal mit den Klassikern.
Der erste grosse Saal zeigt skulpturale Arbeiten, die zu Klassikern geworden sind: Bronzefiguren von Alberto Giacometti, die uns auf unsere fragile Existenz zurückwerfen, geometrische Körper von Max Bill, organische Formen von Hans Arp oder kinetische Maschinen aus Schrott von Jean Tinguely. Die Figur (1948) aus Lava von Hans Aeschbacher hat mich besonders berührt. Im dunkelbraunen porösen Gestein sind die Formen nur sparsam angedeutet, wirken archaisch mit starker Strahlkraft.
Eva Aeppli, Honoré, 1974, Seide, Kapok, Watte, Baumwolle, Metallstab. Kunstmuseum Solothurn, Schenkung Meret Oppenheim, 1974.
Nachdenklich und würdig empfängt einen die textile Skulptur Honoré von Eva Aeppli. Sie sitzt da, als ob sie uns schon lange erwartet hätte. Neben ihr an der Wand hängen Assemblagen mit Messer und Gabel im Besteckkasten Kulturrevolution (1963-64) von Doris Stauffer und Variations d’un petit déjeuner (1966) von Daniel Spoerri. Seine Installation Zimtzauberkonserven (1967) ist bestückt mit unterschiedlichen Objekten und Materialien, wertlosen Fundstücken wie Knochen, Gläser oder Steine, denen er magische Kräfte zuschreibt.
Auf dem Rundgang stösst man auch auf Fantasiegestalten, etwa auf den Biomechanoid (1969) von H.R. Giger aus dem Giger Museum Gruyères, ein Prototyp zwischen Mensch und Maschine, der zehn Jahre vor dem oscargekrönten Film Alien (1979) entstanden ist. Oder auf frühere Arbeiten von Niki de Saint Phalle, wie das Nashorn (1960-65) und Le Capitaine Hook (1964) sowie Le Cyclop – la Tête, eine Gemeinschaftsarbeit mit Jean Tinguely von 1970. Niki de Saint Phalle mochte eigentlich Kunststoff als Arbeitsmaterial nicht, wie sie einmal sagte, aber seit den 1960er Jahren nutzte sie ihn doch, weil sie damit grosse, transportierbare Volumen wie die Nanas schaffen konnte, die leicht und unzerbrechlich sind. Nanas sind in der Ausstellung nicht zu sehen, dafür Der Teufel aus bemaltem Polyester von 1986.
Ausstellungsansicht: im Zentrum vorne Annemie Fontana, Kontrast IV (1972) mit Spiegelungen auf der polierten Bronzefläche, links Antoine Poncet, Cabalistique (1978) aus Marmor, rechts Angel Duarte, E.41.A.I., Cote: BA 105 3 (1972) aus Edelstahl.
Die Konkrete Kunst ist mit unterschiedlichen Werken vertreten, etwa von Gottfried Honegger Monoform 20A (1987) aus schwarzem afrikanischem Granit, von Annemie Fontana die Bronzeskulptur Kontrast IV oder von der Genfer Künstlerin Nicole Martin-Lachat Clin d’oeil (1988). Für ihre Konstruktionen, die stets auch menschliche Züge tragen, bevorzugt sie Schiefer als Arbeitsmaterial.
Isabelle Krieg, Life Jacket (Ground), 2018, Jacken, Epoxidharz, Glasfasergewebe.
Der Blick in die grosse «Skulpturenhalle» zeigt, wie unterschiedlich Skulpturen heute sein können, mitunter sogar auf alte Vorbilder zurückgreifen: Im Vordergrund Suspended Marble Banana (2019) aus schwarzem Marquina Marmor auf einem Sockel von der jungen erfolgreichen Waadtländer Künstlerin Claudia Comte, die ein besonderes Augenmerk auf die sorgfältige Wahl des Materials legt. Rechts dahinter eine barock anmutende Pietà (2013) aus Aluminium von Christian Gonzenbach.
Blick in die noch nicht vollständig aufgebaute Ausstellung im Saal des Erweiterungsbaus, hier als lichtdurchflutete Skulpturenhalle. Im Bild Ko-Kuratorin Anouchka Panchard, die Gastkurator Peter Fischer bei der Realisierung der Ausstellung unterstützte.
In der Ausstellungsansicht (Bild oben) erkennt man im Hintergrund rechts eine Figur aus der dreiteiligen Gruppe Les Géants (2015) aus Styropor, die auf einem Gerüst aus Holzstäben thront. Diese drei Riesen von Latifa Echakhch gehen auf Embleme von Repräsentanten der Macht zurück, die traditionell bei religiösen Prozessionen mitgetragen werden. Das silberfarbene Zelt Grande tente (1994) von Fabrice Gygi kann als Metapher für die freiwillige oder erzwungene Wanderschaft der Menschen ohne feste Behausung gelesen werden. Die im Hintergrund links sichtbare Rakete gehört zur Serie First Space Ship on Venus (1995) von Sylvie Fleury, ein komplexes Werk mit verschiedenen Bedeutungszusammenhängen, etwa die phallische Formgebung als Spiel mit Geschlechteridentitäten.
Dachterrasse: Bronzeplastik Noces (1993) von Marcel Dupertuis, an der Fassade die vierteilige Leuchtschrift (2003) von Rémy Zaugg sowie die Fahne aus Polyester (ohne Titel, 1986) von Ingeborg Lüscher. Foto: © Aargauer Kunsthaus.
Auf der Dachterrasse mit Blick auf die Stadt sind weitere Skulpturen platziert. Von hier aus ist die permanente Leuchtschrift an der Aussenfassade besonders gut sichtbar, gestaltet von Remy Zaugg im Jahr 2003 für den Erweiterungsbau von Herzog & de Meuron. Von der luftigen Höhe aus führt der Weg direkt in den lauschigen Rathausgarten, wo sich der Skulpturen Parcours fortsetzt, und wo man sich ausruhen kann.
Im Rathausgarten: Gillian White, Die Tanzenden (2002), Cortenstahl. Hier lassen sich weitere Skulpturen entdecken und man kann sich wunderbar erholen.
Fotos: rv
Bis 26.9.2021
«Schweizer Skulptur seit 1945» im Aargauer Kunsthaus, Aarau, mehr dazu hier
Publikation zur Ausstellung in Vorbereitung, Hrsg. Peter Fischer und Aargauer Kunsthaus, mit verschiedenen Essays, Snoeck Verlag 2021, CHF 49.00.