Es gibt keinen Zweifel, wir leben im Vorläufigen. Nichts ausser dem Tod ist endgültig. Die Forschung meldet immer neue Erkenntnisse, die Technik erfindet stets neue Produkte. Die Zivilisation ist dem Wandel unterworfen. Täglich tauchen neue Probleme auf. Der Mensch wird getrieben und vorangetrieben und steht immer vor neuen Möglichkeiten und einer riesigen Informationsflut. Man könnte den Menschen als ein Wesen definieren, das stets im Vorläufigen schwebt und nicht anders kann, als sich darin zu bewegen. In dieser Schwebe ist der Mensch ein Getriebener, der sich oftmals überholt fühlt. Dazu überraschen ihn nicht selten Krankheiten und der sich abzeichnende Klimawandel deutet grosse Gefahren an. Der Mensch versucht dem Leben durch Anpassung und Mitgehen gewachsen zu sein. Er kommt dennoch nicht an ein befriedigendes Ende, bis er lebensmüde aufgibt.
Max Weber, der grosse Soziologe und Philosoph, sah schon vor 100 Jahren in der Wissenschaft den einen Zweck, Fragen zu stellen, sie wissenschaftlich zu lösen, aber ebenso viele wieder aufzuwerfen, die nach neuen Lösungen rufen, und so immerfort und weiter. In dieser Situation wird das Leben zu einem vorläufigen. Wer beruflich stets durch die Entwicklung herausgefordert ist, ihr genügen muss, fühlt sich leicht überfordert, lebt im Stress und wird allmählich lebensmüde. Weber zitiert in diesem Zusammenhang Tolstoi, der dieser Lebensmüdigkeit eine lebensgesättigte Existenz entgegenstellte.
Wir alle möchten lebensgesättigt das Alter erreichen. Was aber kann dies bedeuten? Der Mensch muss vorerst akzeptieren, dass im Leben das Vorläufige dominiert. Ihm muss bewusst sein, dass das Leben zwischen Geburt und Tod aus sich heraus keinen Sinn ergibt, ausser er verleiht ihm selber einen Sinn. Dabei erkennt er, dass das Leben nicht davon abhängt, bei Allem mitzumachen, was neu ist, und auch nicht davon, stets dort zu sein, wo Neues präsentiert oder geboten wird. Der Mensch erkennt, dass er sich einen eigenen Raum oder Kreis schaffen muss, wo sein Handeln geschätzt wird.
Dem Leben einen Sinn zu geben, heisst, dasjenige realisieren, was seine Talente und Begabung schaffen können und sich in dem ausdrückt, was sein Leben ausmacht. Lebensgesättigt hiesse, aus sich herausholen, was innen brennt. Eine Kerze ist im vollen Sinne erst Kerze, wenn sie brennt. Ist sie erloschen, bleibt sie ein Wachsgegenstand, der seine Bestimmung nicht erfüllt. Die Metapher der Kerze will sagen, dass sich der Mensch einen Zweck geben soll, der über ihn hinausweist, ähnlich wie der Zweck der Kerze, die sich im Lichtgeben erfüllt. Jede Tätigkeit, in dem sich Talente und Begabungen erfüllen, weist über sich hinaus und ist dem Vorläufigen immer voraus, weil etwas entsteht, das unabhängig besteht, auch wenn der Urheber nicht mehr ist.
Damit können wir verstehen, was lebensgesättigt heisst. Für den Einzelnen oder die Einzelne schöpft er aus der Fülle des lebenslangen Wirkens, das sich im Alter noch äussern möchte und Menschen bereichert, solange die Kräfte ausreichen. Aus der Fülle der Begabungen wirkt der Mensch im Seniorenalter weiter und schenkt dem eingeschränkten Kreis, in dem er lebt, die Strahlkraft seiner Tätigkeit. Ich denke an das Buch von Ludwig Hasler: «Für ein Alter, das noch etwas vorhat», das die Menschen ermuntert und anregt, ein lebensgesättigtes Dasein zu führen. Lebensmüde wäre dagegen ein Mensch, der stets dem hinterher gehastet ist, was ihm davonlief und sich nun im Alter nicht mehr einholen lässt.