«Schüchtern» würde ich meinen Hausarzt nicht nennen. Aber die folgende Bemerkung machte er doch eher beiläufig. Wir hatten von meinen Schwierigkeiten beim Gehen gesprochen. Und ich hatte ihn gefragt, ob die Ursache eher im Kopf liege oder in den Beinen. Er lachte: sie liege eindeutig in den Beinen. Und dann sagte er, so nebenbei: «Ich habe ja auch schon einmal von einem Stock gesprochen». Ich erinnerte mich gut, ich hatte vehement abgelehnt, mir einen Gehstock zuzulegen. Obwohl mir ein guter Bekannter versprochen hatte, er werde mich beim Einkauf begleiten. Seines Wissens gebe es da ganz elegante Exemplare.
Die Zeit ging ins Land, aber meine Einschränkungen beim Gehen lösten sich nicht in Wohlgefallen auf. Im Gegenteil! Und auf die Bemerkung meines Hausarztes hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sagen: «Also gut, wo kaufe ich einen Stock?». Er meinte, er plädiere eher für zwei Stöcke. Das gebe mehr Halt. Und erzählte mir die Geschichte von den Affen.
Der Mensch stamme ja bekanntlich von den Affen ab. Die Affen benützten zum Gehen vier Beine. Auch die kleinen Kinder würden sich meist auf vier Beinen vorwärtsbewegen. Bis sie dann den aufrechten Gang erlernten und ihn während ihres Lebens praktizierten. Bis ins Alter, meinte er lächelnd. Dann sei es wieder anders.
Wenn jemand von Affen oder Äffchen spricht, muss ich innerlich lachen. In meinem Wohnzimmer hängt das Einladungsplakat für eine Ausstellung im Rietberg-Museum, Zürich. Es ging, im Sommer 2001, unter dem Titel: «Höhepunkt japanischer Malerei des 16. Jahrhunderts» um das Werk des japanischen Meisters Hasegawa Tôhaku. Auf einem Bild sitzt auf dem Ast eines Baumes eine Affenmutter. Und an einem weiteren Ast hängt ein Affenjunge, voll im Flug, auf die Mutter zu. Das Bild ist voll Ruhe und Dynamik gleichzeitig.
Diese Darstellung habe ich längst verinnerlicht. Muss mir mal überlegen, wie ich den Affenjungen in meine Überlegungen zu meinem Gehschwierigkeiten integrieren kann. Er sitzt auf einem Ast, einem «Stock». Betrachtend meint man, ihn jetzt dann fliegen zu sehen. Aber er sitzt immer noch dort. Seit dem 16. Jahrhundert. Mit meinen beiden Stöcken geht es mir besser. Zwar «fliege» ich nicht, aber ich überwinde Distanzen. Heute!
Der Kauf der Stöcke ging nicht einfach so über die Bühne. Im ersten Geschäft wurde ich nicht fündig. Aber im zweiten, einem Sportgeschäft, erdrückte mich die Fülle der zahlreichen Exemplare fast. Es gab verschiedene Farben, Gewichte, Höhen. Das Glück war mir hold. Eine ausgesprochen liebenswürdige junge Verkäuferin kümmerte sich um mich. «Wissen Sie», sagte ich ihr, «ich möchte Wanderstöcke kaufen, aber ich verstehe davon gar nichts. Ich verlasse mich ganz auf Sie als Fachfrau!» Sie lachte ein helles Lachen und meinte in ihrem ausgeprägten Dialekt: «Das schaffen wir schon».
Was ich nie gedacht hätte: mein Körper signalisierte mir von selbst, was zu mir passte. Gleichsam vermittelte er mir, es sei gut, dass ich endlich Vernunft angenommen und mich zu Hilfsmitteln beim Gehen entschlossen hätte.
Immer wieder kommt mir das Bild vom Äffchen in den Sinn. Seit Jahrhunderten will es sich vom Ast abheben und seiner Mutter entgegenfliegen. Das wird es nie schaffen! Was hat sich der Maler nur dabei gedacht?
Im Gegensatz dazu kann ich mich mit meinen zwei «Ästen» zufriedenstellend fortbewegen. Sozusagen auf vier Beinen. Wie mir das mein Hausarzt mit seiner Geschichte «eingeflüstert» hatte!
Du machst mir ja richtig Mut!
Pardon, aber da muss ich etwas beisteuern, auch wenn es mit zwei stöcken gesünder geht als mit einem:
Das Rätsel, das die Sphinx den Menschen stellte, und das erst Ödipus zu lösen vermochte, lautete:
„Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“
Ödipus’ richtige Antwort war:
„Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.“