StartseiteMagazinGesellschaftBitterböse Satire über das Kleinbürgertum

Bitterböse Satire über das Kleinbürgertum

Das «Theater Matte» in Bern spielt derzeit die Satire «Der Gott des Gemetzels» in einer Dialektfassung. Mit ihrem eskalierenden Streit spiegeln die vier Protagonisten brillant die Verlogenheit kleinbürgerlicher Bidrigkeit. Als Zuschauer weiss man am Schluss nicht, ob man lachen oder schreien soll.

Die Handlung ist simpel: Nach dem Streit zweier 11jähriger Buben, in der Berner Aufführung heissen sie David und Oskar, treffen sich deren Eltern zur Regelung des Schadens. David hatte Oskar mit einem Stock die Schneidezähne herausgeschlagen. Im «Theater Matte» beginnt das Spiel in einem modern eingerichteten Wohnzimmer in einer kleinbürgerlichen Atmosphäre.

Verena Ruchti, Andrea Ballenberger und Michel Ruchti (v.l.n.r) analysieren die Folgen des Stockschlags.

Anfänglich sieht es nach einer geordneten Aussöhnung mit Entschuldigung und Schadenersatzzahlung aus. Die beiden Paare üben sich in peinlicher Kommunikation, zwischen heuchlerischen Komplimenten, familiärer Korrektheit und vorsichtiger Selbstverteidigung. Doch dann eskaliert der Streit. Der Zwischenfall der Buben wird instrumentalisiert für immer neue Konflikte zwischen den Eltern. Als Herr und Frau Ballenberger, die Eltern des jugendlichen «Täters», im Begriff sind, das Wohnzimmer zu verlassen, zeigt die Mutter des «Opfers», Verena Ruchti (gespielt von Nicole D. Käser), ihr wahres Gesicht.

Verena Ruchti gibt sich kämpferisch.

Ab nun wird über Begriffe, Verantwortung und Rollen gestritten. Verena Ruchti fühlt sich selbst als Opfer und erklärt den Ballenbergers die Prinzipien von Schuld, Reue sowie Moral. Ordnungsliebend kämpft die selbsternannte Schriftstellerin, die sich beruflich für Menschenrechte und die Opfer des Völkermordes im afrikanischen Darfur engagiert, für familiäre Genugtuung und Wiedergutmachung des Schadens. Dass sie dabei die Menschenrechte ihrer Gäste mit Füssen tritt, erkennt sie nicht.

Michel Ruchti explodiert der Kragen.

Ebenso kämpferisch gibt sich Verenas Ehemann, Michel Ruchti (Christoph Keller), seines Zeichens Vertreter für WC-Spülungen: Vordergründig unterstützt er seine Frau in der Verteidigung kleinbürgerlicher Werte und Konventionen. Mit der Zeit zeigt er auch seine cholerische Seite: «Hört auf mit dem gefühlsduseligen Schwachsinn», schreit er. Nach einem Anfall verbrüdert sich der überforderte Vater im Suff mit seinem Widersacher, Patrick Ballenberger (Roman Weber), um sofort wieder ins bewährte Kampfmuster «Choleriker gegen Macho» zu verfallen. Zwischendurch zeigt sich Michel – nicht ganz uneigennützig, aber für alle sichtbar – als «barmherziger Samariter» und betascht die hübsche Andrea Ballenberger (Corinne Thalmann), die Mutter des angeblichen «Täters» und Treuhänderin, geniesserisch.

Für Rechtsanwalt Ballenberger sind geschäftliche Telefonate wichtiger als eine gütliche Einigung mit den Ruchtis.

Zu einem allgemeinen Ärgernis werden die geschäftlichen Telefonate, die Anwalt Ballenberger pausenlos entgegennimmt. Sein Beruf scheint dem Winkeladvokaten wichtiger zu sein als eine gütliche Einigung der Familienfehde, die er als Nebenschauplatz betrachtet: «Ich glaube an den Gott des Gemetzels, dessen Gesetze seit Anbeginn regieren», bekennt er. Der umtriebige Jurist schreckt nicht davor zurück, seine eigene Frau für einen guten Gag bloss zu stellen. Ruhe kehrt erst ein, als die enervierte Gattin das Mobiltelefon ihres Mannes in einer mit Wasser gefüllten Blumenvase versenkt.

Die zutage tretenden Konflikte sind mehrschichtig: Ehepaar gegen Ehepaar, Männer gegen Frauen, Mann gegen Mann, Frau gegen Frau….. Das Minenfeld der Bünzlis scheint unendlich. Den Höhepunkt des grotesken Streitmarathons schafft Andrea Ballenberger, als sie in einem Wutanfall den das Wohnzimmer schmückenden Blumenstrauss vernichtet. Die schöne Fassade der bürgerlichen Heuchelei ist endgültig zerstört. Sämtliche Schlichtungsversuche sind implodiert. Unter den Anwesenden herrschen Frustration, Betroffenheit und peinliche Stille. Familienfrieden, eine konstruktiven Konfliktlösung oder Vergebung scheinen in weite Ferne gerückt.

Andrea Ballenberger ist ausser sich vor Wut.

Das Spiel endet in einem menschlichen Desaster, gespickt mit Frustration und Gewalt. Am Schluss entlassen die vier Protagonisten der brillant gespielten Gesellschaftssatire die Zuschauerinnen und Zuschauer ohnmächtig, ratlos, nach Antworten suchend: Weshalb sind Gutmenschen und Grossbürger trotz gängiger Moralvorstellungen, Bildung und Wohlstand nicht in der Lage, Konflikte im Privaten, in der Familien, in der Nachbarschaft auf vernünftigem Weg beizulegen? Haben wir es verlernt, uns im Alltag gelassen, friedlich sowie vor allem anständig zu benehmen? Wie erkennt man, wenn «Stellvertreterkriege» an Stelle eines Minikonflikts treten? Gibt es gute Gewalt und schlechten Frieden?

Der Lebensspiegel ist aufgestellt. Schauen wir doch ab und zu mal zu rein.

Das Bühnenstück «Der Gott des Gemetzels» der französischen Dramatikerin Yasmina Rezas wurde 2006 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. International bekannt wurde die schwarze Komödie 2011 durch die Verfilmung Roman Polanskis «Carnage» (Deutsch für Gemetzel) mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly. Seit dem preisgekrönten Film gehört das Stück zu den populären Produktionen vieler deutschsprachiger Bühnen.

Die im «Theater Matte» gezeigte Mundartfassung stammt von Corinne Thalmann. Regie führte der deutsche Schauspieler, Theaterregisseur und Performer Oliver Stein. Das Bühnenbild hat Fredi Stettler gestaltet, die Kostüme sind von Nora Blank.

Titelbild: Bei Kaffee und Kuchen lernt man sich kennen. V.l.n.r. Michel Ruchti (Christoph Keller), Patrick Ballenberger (Roman Weber), Andrea Ballenberger (Corinne Thalmann) und Verena Ruchti (Nicole D. Käser). Alle Fotos: © Rolf Veraguth

Weitere Vorstellungen:

Mi. 27.10. / Do. 28.10. / Fr. 29.10. / Sa. 30.10. / So. 31.10.* / Mi. 03.11. / Do. 04.11. / Fr. 05.11. / Sa. 06.11. / So. 07.11. / Mi. 10.11. / Do. 11.11. / Fr. 12.11. / Sa. 13.11. / So. 14.11. / Mi. 17.11. / Do. 18.11. / Fr. 19.11. / Sa. 20.11.2021 (* Mit anschliessendem Publikumsgespräch).

Die Vorstellungen beginnen jeweils um 20 Uhr, Sonntags um 17.00 Uhr.

«Theater Matte» und Podcast zum Stück: https://theatermatte.ch/podcast/

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