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Lasst sie treicheln

Den Aufruf, die Treichler treicheln zu lassen, entnehme ich einem Titel der NZZ vom 12. Oktober. Jedes Mal, wenn in den Medien die Rede vom ihnen ist oder sie im Fernsehen auftauchen, fällt mir ein: Lasst sie treicheln. Das gilt nun auch bei den «Freiheitstrychlern» mit ihren weissen Hemden umso mehr, seit sie sich zu einer Bewegung zusammenangeschlossen haben, die für sich herausnimmt zu bestimmen, was Freiheit ist. Ja, was bedeutet Freiheit im Zusammenhang mit Covid-19? Ein Mitbegründer der Freiheitstrychler erklärte dies im «Bote der Urschweiz»*. «Unseren Vorfahren ist es um mehr gegangen (als um Dreikönigen die Runde zu drehen), nämlich die bösen Geister der Angst auszutreiben: Die Angst vor dem Virus, vor Repressalien und davor, die eigene Meinung zu sagen.» Die Gruppe engagiert sich also gegen «Repressalien» des Bundesrats, die er mit den getroffenen Corona-Massnahmen beschlossen hat. Der Bundesrat erscheint in ihrer Vorstellung als ein neuer Vogt.

Es geht also um Freiheit. Aber um welche? Frei zu sein wie vor der Covid-Pandemie? Keine Masken zu tragen und als Ungeimpfte mit Geimpften in der warmen Wirtsstube ein Bier zu trinken? Der Bundesrat argumentiert mit der Gefahr weiterer Ansteckungen. Das Virus ist brandgefährlich. Bereits werden in der Schweiz über 200’000 Long-Covid-Patienten und erste Anträge von ihnen auf IV-Hilfe registriert. Noch immer ist das Virus unheimlich tätig. Die Aufgabe des Bundesrats ist es, die Menschen zu schützen.

Ich selber liess mich impfen, trage dort, wo ich muss, die Maske, fühle mich deswegen meiner Freiheit nicht beraubt. Ich ziehe die Maske über Mund und Nase zu meinem eigenen Schutz und zu dem für andere. Das Virus ist Realität. Diese wird heute nicht einmal mehr von Covid-Leugnern bestritten. Die Freiheit hingegen ist keine Realität, sondern ein Begriff der Wirklichkeit. Er bringt zum Ausdruck, wie jeder einzelne die Wirklichkeit zu sehen vorgibt. Sie ist also subjektiv. Der Mensch nimmt die Realität stets individuell wahr. Wäre Freiheit eine gegebene Realität, könnte sie sich nicht ändern.

Wilhelm Tell wird oft erwähnt, wenn es um die Freiheit geht. Er hatte eine Freiheitsvorstellung, die heute im demokratischen Rechtsstaat überholt ist. Der Tell der Sage fühlte sich frei, den Gessler-Hut nicht zu grüssen. Er zeigte damit dem Vogt seine Verachtung. Gessler, der Vogt, urteilte willkürlich und versuchte, Tell in den Turm zu werfen. Solche Vögte gibt es noch immer. Erdogan ist ein neuer Vogt. Er verfolgt Menschen, die eine eigene Freiheitsidee vertreten. Putin verbietet ihnen bei Wahlen zu kandidieren, Xi Jinping knechtet Honkong. In der Demokratie wird die Freiheit durch demokratisch legitimierte Gesetze geregelt. Die Schweizerische Wirklichkeit ist eine andere als die in Belarus.

Ich halte mich an die Gesetze, die für alle gelten und unser Zusammenleben regeln. So können wir alle die gleiche Freiheit geniessen. Wie sollte ich also der bundesrätlichen Verordnung bei der Pandemie nicht folgen?  Ich fürchtete mich bei der Impfung nicht vor dem Einstich der Nadel, hatte weder Schmerzen noch andere Folgen. Schon bald ein Jahr lebe ich mit dem Abwehrstoff in meinem Körper. Ich besitze ein Zertifikat und kann in jeden Raum treten, ja sogar in das Schiffsrestaurant auf dem Vierwaldstättersee. Ich fühle mich frei, wie alle, die dort etwas essen oder trinken. Ich habe meine Wirklichkeit der Realität angepasst, kämpfe nicht gegen böse Geister, fühle keine Repressalien des Bundesrates und kann meine eigene Meinung vertreten. Manchmal denke ich, wenn ich mit jemandem diskutiere, der den Bundesrat beschimpft: «Lass ihn treicheln.»

* Bote der Urschweiz, 22. Oktober, Interview

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3 Kommentare

  1. Vielen Dank für die gute Kolumne. Ich habe mir schon oft Gedanken gemacht über Freiheit. Ich glaube bei diesem Thema (Freiheit) ist der Stadt-Land-Graben am grössten. Beide Bevölkerungsgruppen haben, grob gesehen, ein völlig anderes Verständnis von Freiheit. Während der eine Teil die (vermeintliche) Freiheit sowieso mit den Mitmenschen teilen muss, hat der andere Teil wahrscheinlich das Gefühl, dass es ihr ureigenes Recht sei, die alleinige Freiheit zu besitzen. Aber letztendlich sind wir doch alle in irgend einer Form aufeinander angewiesen, deshalb sollte es doch möglich sein, beide Ansichten neben einander zu akzeptieren, allerdings nicht so verbissen wie zurzeit.

    Ich frage mich, wo hört die Freiheit meines Nachbarn auf und wo fängt meine Freiheit an?

  2. Ein für mich eher fragwürdigen Freiheitsbegriff hat der Autor dieses Artikel.
    Ist es Freiheit, wenn der Staat mich/uns zwingt zum Impfen?
    Fakt ist, der Staat hat mit dem Covid Zertifikat ein indirekten Impfzwang eingeführt!!
    Die Folge wie Ausgrenzung und Spaltung der Gesellschaft sind unmittelbar kollaterale Schäden dieser Bundesrätlichen verordneten «Impf-Freiheit».
    Ins besonders schlimm, wenn man heute wissenschaftlich weiss, dass auch die Geimpften den Virus weiterverbreiten.
    Und sowas feiert der Artikel-Autor als Freiheit…
    Ich staune!
    Um Ihren letzten Satz im Artikel zu beantworten.
    Lasst Ihn plappern… Denn wir haben ja Freiheit.

  3. Vorschlag: Jeder, der ein weisses Kutteli trägt und sich eine grosse Kuhglocke um den Hals bindet, braucht kein Zertifikat vorzuweisen.

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