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Wenn nichts als die Flucht bleibt

Der Historiker Andreas Kossert zeichnet in «Flucht. Eine Menschheitsgeschichte» Fluchtbewegungen und Vertreibungen nach und verbindet sie mit Erzählungen von und über Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten.

Flucht – damit hat sich Andreas Kossert ein immenses Thema vorgenommen, aus gutem Grund hat er den Untertitel Eine Menschheitsgeschichte gewählt. Aus der Heimat fliehen zu müssen, aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen vertrieben zu werden, stets ist es ein traumatischer Einschnitt im Leben unzähliger Menschen und Völker. Auswählen musste Kossert zweifellos: So hat er nicht nur die Flüchtlinge der letzten Jahre und Jahrzehnte im Blick, sein Thema sind unterschiedliche historische Fluchtbewegungen, Umstände, aufgrund derer Menschen in früheren Jahrhunderten aus ihrer angestammten Heimat flüchten mussten, ihre Heimat aus Angst vor neuen Machtverhältnissen verliessen oder vertrieben wurden.

«Jeder kann morgen ein Flüchtling sein.»

Zum Einstieg erzählt der Autor, was er aus den Notizen seines Grossvaters erfahren hat: Dieser – Bauer in den heute polnischen Masuren – hatte im Januar 1945 den Befehl erhalten, seinen Hof zu verlassen. Er «landet» schliesslich mit seiner Frau in Norddeutschland, seine Kinder und Enkel in anderen Orten. Über ein Jahr lang bemüht sich der Grossvater um eine Rückkehr in seine masurische Heimat, erkundigt sich immer wieder bei den Behörden. Dass er bei fremden Leuten einquartiert war, dass die grosse Familie zerstreut war, bedrückte ihn, schreibt Kossert. – Die aus dem Osten vertriebenen Deutschen waren bei ihren neuen Nachbarn alles andere als willkommen. Der Grossvater muss akzeptieren, dass eine Rückkehr unmöglich ist – und bald darauf stirbt er, «an Heimweh», schreibt Kossert und fährt fort: «In der Weltchronik über das Fliehen steht seine Geschichte für Abermillionen von Schicksalen.»

Andreas Kossert © Tobias Hein

Der Autor, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Nach seiner Promotion arbeitete er am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Seit 2010 lebt er als Historiker und Autor in Berlin. Seine ersten historischen Darstellungen Masurens (2001) und Ostpreußens (2005) fanden grossen Widerhall. Seine wichtigsten Werke »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945« (2008) sowie »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« (2014) wurden Bestseller. Kosserts Verdienst besteht darin, die Schicksale der Flüchtlinge aufgrund authentischer Zeugnisse bzw. literarischer Quellen anschaulich darzustellen. Er verfolgt einen von Humanismus geprägten sozialhistorischen Ansatz.

Interessant ist die Geschichte der Begriffe Flucht und Flüchtling. Während Flucht ein altes Wort ist, das auch Vertreibung u.ä. bedeutete, wurde Flüchtling erst ab dem Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert gebräuchlich. Die Hugenotten, die wegen ihres protestantischen Glaubens nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 aus Frankreich flüchten mussten, nannte man in England refugees. In Preussen, wohin sie vom König speziell eingeladen wurden, blieb man beim französischen réfugiés. Der Dichter Theodor Fontane stammte aus einer solchen Flüchtlingsfamilie.

«Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben.»

Kossert geht auf die sich zum Teil widerstreitenden Definitionen von Flucht und Vertreibung ein. Den Begriff Vertreibung findet er zuerst in jüdischen Lexika, wo er sich auf die immer wiederkehrenden Wellen der Judenverfolgung bezieht. Ebenso muss der Begriff für die Armenier gelten, die während des 1. Weltkriegs in Todesmärsche gezwungen wurden. Wenn heute von Flüchtlingen gesprochen wird, erklärt Kossert, dann handelt es sich gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention um Menschen, die «zwangsweise entwurzelt werden», also Vertriebene und Flüchtlinge gleichermassen. – Flucht ist ein nicht endendes Kapitel der Menschheitsgeschichte, wie wir heute fast täglich sehen müssen. Wer im Christentum aufgewachsen ist, kennt aus der Bibel viele Geschichten, die von Flucht und Vertreibung handeln.

«Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist.»

Einen gewichtigen Teil des Buches widmet der Autor den Ursachen und Folgen vieler Konflikte, die weltweit zu Flucht und Vertreibung führten. Auch der Sklavenhandel gehört dazu, denn auch diese Menschen wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Im Hauptteil schreibt Andreas Kossert darüber, wie Menschen ihre Heimat verstehen. Heimat. Von den Ambivalenzen eines Gefühls, dieser Titel sagt schon viel aus: Was Heimat ist, bleibt subjektiv, weder messbar noch von Fremden nachvollziehbar. Der Autor zitiert dazu ein Gedicht von Lea Goldberg, die beim Anblick von Föhren in Israel an ihre alte Heimat Litauen denken muss, und schreibt dazu: «Dass die Erinnerungen an das Verlorene unaufhörlich fortleben, eingebettet in eine Geografie der Seele, macht jede Empfindung zwiespältig . . . «. Von einem anderen Vertriebenen erzählt er, das dieser sich in München immer wieder verlaufen habe, weil er aus Heimweh jedesmal versucht gewesen sei zu denken, hinter der nächsten Strassenecke sei seine alte Heimat.

«Was war, endet nicht.»

Solche konkreten Berichte machen den Wert dieses Buches aus, neben der sorgfältigen historischen Darstellung der historischen Zusammenhänge, die – so umfangreich sie sind – nicht vollständig sein können. Kossert folgt kapitelweise dem Weg, den jeder flüchtende Mensch nehmen muss: Nach dem Weggehen kommt das Ankommen, das Weiterleben, das Erinnern.

Immer bleibt die Frage: Wann ist man angekommen? Darauf wird jede Frau, jeder Mann nur individuell antworten können. Kossert zitiert dazu Ilija Trojanow: «Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht. Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.»

Trotz seines konzentrierten Gehalts liest sich das Buch sehr gut. Es fesselt auch diejenigen, die ihr Leben lang in ihrer Heimat verwurzelt bleiben konnten. Zur sorgfältigen Arbeit des Autors gehört ein umfangreicher Anhang mit Quellenangaben, Personenregister und Literaturangaben zu allen erwähnten Themen und Zitaten. Vor kurzem wurde das Buch mit dem Preis für «Das politische Buch» 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet.

Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler Verlag München 2020. 432 Seiten mit vielen Abbildungen. ISBN: 978-3-8275-0091-5

Titelbild: Flucht. © Helmut Holenstein / pixabay

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