StartseiteMagazinGesellschaftVierundvierzig Porträts aus Leidenschaft

Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft

Vierundvierzig Autorinnen und Autoren stellen im Buch «Projekt Schweiz» je eine Persönlichkeit vor, herausgegeben von Stefan Howald. Es sind Lebensgeschichten von leidenschaftlichen Menschen, die unser Land geprägt und bereichert haben, oft vergessen sind oder neu gesehen werden sollten.

Es sind persönliche Porträts, berührende Briefe oder spannende Spurensuchen, aber nie Interviews. Denn die beschriebenen Personen leben alle nicht mehr. Die vierundvierzig Menschen aus dem 18. bis zum 21. Jahrhundert trugen zu einem liberalen, offenen, sozial engagierten Land bei, schreibt Herausgeber Stefan Howald im Vorwort. Für jedes Porträt hatte er Schriftstellerinnen, Historiker, Wissenschaftlerinnen und Journalisten angefragt, die Zugang zu den Porträtierten hatten. Die Form blieb ihnen überlassen, entsprechend vielfältig präsentieren sich die Beiträge, sei es als historische Aufarbeitung oder als persönliche Auseinandersetzung, auch mit durchaus literarischen Qualitäten.

Walter Wegmüller (1937-2020) wurde als unehelich geborenes jenisches Kind fremdplatziert und lebte in Basel als Künstler, Geschichtenerzähler und Minderheitensprecher, wie Schriftsteller und Journalist Willi Wottreng schreibt.

Den Beitrag über Paulette Brupbacher-Raygrodski (1880-1967) verfasste die Schriftstellerin Ruth Schweikert in Briefform. Sie kannte die für Frauenrechte engagierte Ärztin zuvor nicht. Es fiel ihr leichter, diese starke Frau in einem persönlichen Brief anzusprechen, und bald einmal duzt sie Paulette freundschaftlich. Diese «unerschrocken lebenskluge Ärztin, Aktivistin, Publizistin und tatkräftige Träumerin» hätte sie gerne kennengelernt. In Russland in einem jüdischen Gelehrtenhaushalt geboren hatte Paulette ihr zweites Studium in Medizin 1913 in Genf abgeschlossen, arbeitete als Ärztin und heiratete in zweiter Ehe den Zürcher Armenarzt Fritz Brupbacher (1847-1945), mit dem sie im Zürcher Arbeiterquartier eine Praxis führte. Als Frauenärztin und Sexualreformerin setzte sie sich für benachteiligte Frauen und Flüchtlinge ein.

Paulette und Fritz Brupbacher 1930 auf Ferienreise in Minusio.

Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit sozial engagierten Menschen, so schreibt etwa Wissenschaftsredaktorin Regula Freuler zum Leben von Mentona Moser (1874-1971). Moser stammte aus einer der reichsten Schweizer Industriellenfamilien. In London wurde sie mit der Armut konfrontiert und engagierte sich dort als Sozialhelferin. Zurück in der Schweiz setzte sie sich für den Aufbau eines professionell geführten Sozialwesens ein. Doch im Alter verarmte sie selbst. Schliesslich wurde sie von der DDR eingeladen, als Ehrengast den Lebensabend in Berlin würdig zu verbringen, wo sie auch starb. Siehe auch unser Bericht über Mentona Moser.

Fritz Platten (unten) mit seiner Frau Berta Zimmermann (rechts) in der Landkolchose Nowa Lawa in der Sowjetunion, um 1925.

Mentona Moser hatte sich Mitte der 1920er Jahre in der Sowjetunion engagiert und unterstützte Fritz Platten (1883-1942) beim Aufbau eines internationalen Kinderheims südlich von Moskau. Beide wollten als überzeugte Kommunisten eine soziale und gerechtere Welt mit aufbauen. Moser verliess die Sowjetunion rechtzeitig, Platten wurde im Gulag auf Geheiss von Stalin umgebracht, ebenso seine Frau. Zu Felix Platten schrieb Jean Ziegler den Beitrag mit der Bemerkung am Schluss: «Wir hätten Fritz Platten heute nötiger denn je, seinen Widerstandswillen, seinen Mut, seine strahlende, unbeugsame Hoffnung».

Theo Pinkus verteilt auf dem Helvetiaplatz in Zürich seinen Zeitdienst.

Über einen weiteren leidenschaftlichen Genossen, Theo Pinkus (1909-1991), schreibt die Schriftstellerin Isolde Schaad. Sie war noch jung und tippte auf der Redaktion des Zeitdienst jeweils das Gekritzel des umtriebigen Buchhändlers und Redaktors ab. Von Pinkus, der stets mit einem Plastiksack gefüllt mit seinem Zeitdienst unterwegs war, hiess es, er sei «der Mann, der sein Gespräch mit Herbert Marcuse unterbricht, um einen Zeitdienst zu verkaufen». Pinkus führte in seiner Buchhandlung an der Froschaugasse in Zürich erstmals einen Büchersuchdienst.

Auch aus dem 19. Jahrhundert werden Sozialreformer vorgestellt, etwa vom Historiker Hans Fässler zum Schaffhauser Wilhelm Joos (1821-1900), der als Arzt in Südamerika, Paris, Ägypten und in der Türkei tätig war, später als Nationalrat unzählige politische Vorstösse und Initiativen gegen Kinderarbeit und Schweizer Sklavenbesitz in Brasilien lancierte. Doch der Bundesrat fürchtete, keinen Konsul für Brasilien mehr zu finden, wenn der Sklavenbesitz verboten würde. Ein leidiges Thema, das erst in jüngster Zeit aufgearbeitet wird.

Margrit Rainer und Ruedi Walter hören 1958 den eigenen Stimmen in der Hörspielserie «Spalebärg 77a» zu.

Aus der Theaterwelt schreibt die Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher zu Margrit Rainer (1914-1982) als «Paartherapeutin der Nation». Wer erinnert sich von uns Älteren nicht an das Gezänk von Luise und Guschti Ehrsam in der Hörspielserie Spalebärg 77a. Das Ehe-Duo gespielt von Margrit Rainer und Ruedi Walter sorgte während zehn Jahren (1955-1965) in der Deutschschweiz jeden Samstag über Radio Beromünster für gute Laune. Die Figuren, die Margrit Rainer auch auf der Bühne und im Film verkörperte, waren meist traditionelle Frauen, die nicht aus ihrer Rolle ausbrechen wollten und doch Anerkennung für ihre Arbeit im Haushalt oder im Betrieb forderten. Über Youtube lassen sich verschiedene Aufzeichnungen abrufen.

Zu den vergessenen Künstlern gehört Martin Disteli (1802-1844) mit sozialkritischen Bildern, wie das Aquarell «Das bedrohte Froschparlament». Eine Karikatur von 1833 auf die unfähige Tagsatzung der Eidgenossenschaft. Aus dem Hintergrund sind Adler und Störche, die europäischen Grossmächte, jederzeit bereit zum Zuschnappen, schreibt der Historiker Lucien Leitess im Beitrag über Disteli.

Verschiedene Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden in lebendigen Beiträgen gewürdigt, etwa Johanna Spyri (1817-1901) von der Kabarettistin und Autorin Patti Basler, die 2015 einen Studienpreis der Uni Zürich für ihren Abschluss über Johanna Spyri erhielt und sich ihr verbunden fühlt. Sie hatte Antworten nach Erziehungsgrundsätzen bei der Dichterin gesucht, fand diese jedoch nicht in der Biografie, sondern in ihren Kindergeschichten. Am Ende des Beitrags schreibt Patti Basler: «Danke, Johanna Spyri, für den Boden und das Fenster – aber der Weg ist noch weit».

Weitere Autoren werden erwähnt, so schreibt etwa die Journalistin und Reporterin Margrit Sprecher über ihre nicht immer einfachen Erfahrungen mit dem eigenwilligen Kollegen Niklaus Meienberg (1940-1993) und Charles Lewinsky sieht in Jeremias Gotthelf (1797-1854) den «grössten Dichter, den die Schweizer Literatur je hervorgebracht hat», auch wenn ihm seine politischen Ansichten nicht sympathisch sind.

«Projekt Schweiz» ist ein vielfältiger Sammelband, der spannende, auch wenig bekannte Persönlichkeiten berücksichtigt, ein Lesebuch für ruhige Stunden. Jede Lebensgeschichte ist in einer persönlichen Handschrift aufgezeichnet. Textelemente zu den Schreibenden, kurze biografische Tabellen sowie Hinweise zu den beschriebenen Persönlichkeiten und Abbildungen ergänzen die Kapitel.

Bilder: Die Fotos sind dem Buch entnommen.

«Projekt Schweiz – Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft», Hrg. Stefan Howald, Unionsverlag, Zürich 2021. ISBN 978-3-293-00578-5.

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