StartseiteMagazinGesellschaftVor 65 Jahren: Unterbäch - «Rütli der Schweizer Frau»

Vor 65 Jahren: Unterbäch – «Rütli der Schweizer Frau»

Im vergangenen Jahr feierte unser Land 50 Jahre Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Im Walliser Ferienort Unterbäch gingen 1957 – schon vor 65 Jahren – die ersten Schweizer Frauen an die Urne – gegen den Willen der Behörden Bundesberns und des Kantons. Der damals «illegale Akt» war in jeder Hinsicht ein Schlüsselmoment für die Schweiz und ihre Demokratie.

Rainer Maria Rilke war tief beeindruckt und ergriffen vom Rhonetal und nannte das Wallis «das Tal der Schweiz von alters her». Der Zeit- und Rastlose soll in diesem verheissungsvollen Land das Tal Josaphat gesehen haben; dort werde das Jüngste Gericht stattfinden. Den Burghügel von Raron bestimmte der weltbekannte Dichter zu seiner letzten Ruhestätte.

Auf dem Plateau gegenüber liegt der Ferienort Unterbäch. Jener Ort, der für den Werdegang eines zeitgemässen Demokratieverständnisses der Schweizer, namentlich für die Rechte der Frauen, eine wegweisende Rolle spielte.

Der Bundesstaat von 1848 brachte der Schweiz als erstem Land Europas eine stabile demokratische Ordnung als freie Republik. Doch die Frauen und damit die Hälfte der Bevölkerung blieben von der Mitbestimmung an der Urne ausgeschlossen.

Von links nach rechts: Frau Iris von Roten (Autorin des Buches «Frauen im Laufgitter»), Peter von Roten (Regierungsstatthalter von Raron), Bundesrätin Elisabeth Kopp und Roman Weissen (Gemeindepräsident (1980 – 1992) anlässlich der Ehrenbürgerfeier der ersten Bundesrätin in Unterbäch.

Mutige Frauen kämpften für ihre Rechte und überzeugten ihre Männer in den Ratsstuben, die allzu lange den Männern vorbehalten war, zum Handeln. Ja, der Kampf um die Gleichstellung von Mann und Frau hatte zwar seit jeher viele Mütter und Väter. Nachgerade die Generation 65+ könnte in dieser Hinsicht viel erzählen. Der Wille und der Worte zur Veränderung bedurften schon vor mehr als 65 Jahren weit mehr. Es brauchte vor allem die Einsicht der Männerwelt zur Weichenstellung, insbesondere aber den Mut und die Aufmüpfigkeit von Frau und Mann wider die Gesetze der politischen Diskriminierung.

Sogar die New York Times berichtete

Der Rarner Peter von Roten liess sich von seiner Gattin Iris von Roten, der grossen Pionierin der Frauenrechte und Autorin des Buches «Frauen im Laufgitter», überzeugen, dass der Weg aus der Bevormundung der weiblichen Mitbürgerinnen Pflicht sein muss. Bereits 1945 reichte der Präfekt und Grossrat Peter von Roten im Walliser Grossen Rat eine Motion ein, mit der die politische Gleichberechtigung der Frauen verlangt wurde. Der Vorstoss führte nicht zum Ziel. So suchte Paul Zenhäusern, Gemeindepräsident und Grossrat von Unterbäch und Mitunterzeichner der Motion, schliesslich den ambitiösen Weg in seiner Gemeinde. Getreu des sprichwörtlichen Mutes der Unterbächner, der ihnen von alters her eigen ist.

Apropos Frauenstimmrecht. Im März 1957 hatte der Schweizer Souverän über die Einführung des obligatorischen Zivilschutzdienstes für Frauen zu entscheiden. Über eine Vorlage, die Frauen direkt betraf, sollten die Schweizer Männer allein bestimmen. Gemeindepräsident Zenhäusern wehrte sich. Mit seinen sieben Ratskollegen fasste er einen unkonventionellen wie auch revolutionären Beschluss: «Nach Kenntnisnahme einer Rechtsbelehrung von Bundesrichter Werner Stocker beschliesst der Rat, am Urnengang für die Abstimmung vom 3. März 1957 zur Einführung der obligatorischen Schutzdienstpflicht weiblicher Personen auch den Frauen das Stimmrecht zu gewähren.» Der Gemeinderat begründete seinen Entscheid folgendermassen: «Der Anstand und der gute Ton verlangen es, dass wir Männer uns nicht als allmächtige Vormünder benehmen, sondern Rechte und Pflichten unserer Frauen in Einklang bringen.» Der Beschluss der Gemeindebehörde öffnete den Frauen unter Berufung auf die Gemeindeautonomie und damit unter Missachtung der Weisungen der Bundes- und Kantonsregierung die Tür zum Abstimmungslokal.

Kathrin Zenhäusern, Gattin von Paul Zenhäusern, Gemeindepräsident von Unterbäch, zeigt eine Erinnerungsbroschüre, die als Erinnerung an den Urnengang von 3. Mai 1957 herausgegeben wurde.

Unterbäch setzte 1957 ein staatspolitisches Signal. Die Oberwalliser Gemeinde schrieb vor 65 Jahren internationale Schlagzeilen, in dieser aufmüpfigen Kommune erstmals in der Schweiz Frauen an die Urne gingen – gegen das ausdrücklich verordnete Verbot des Kantons und der Eidgenossenschaft.

Die Vorlage wurde, wie zu erwarten war, sowohl auf nationaler Ebene als auch in Unterbäch, wo 33 mutige Frauen unter Spott einer ortseigenen Gegnerschaft den Gang ins Abstimmungslokal wagten, abgelehnt. Die «illegale Tat» von Unterbäch löste destotrotz ein grosses Echo in der Schweiz wie auch im Ausland aus. Sogar die New York Times berichtete darüber. Gewisse Zeitungen schrieben gar vom «Fanal von Unterbäch».

In der Tat, wie die Schweiz als Staat ihren Ursprung auf dem Rütli am Vierwaldstättersee hat, so schrieb Unterbäch, Jahre später werbebewusst als das «Rütli der Schweizer Frau» bezeichnet, Geschichte im Einsatz und im Bemühen für die fundamentalen Rechte der Frauen.

Ungeachtet dieser Vorreiterrolle aus dem Wallis wurde im Jahre 1959 die Einführung des Frauenstimmrechts mit 67% Nein-Stimmen verworfen. Nur in drei Westschweizer Kantonen wird die Vorlage angenommen: Waadt 51%, Genf 60%, Neuenburg 52%.

Die Walliserinnen mussten noch bis 1970 warten, bis sie endlich politische Rechte zugesprochen erhielten, die Schweizerinnen sogar ein Jahr länger: Das Schweizer Stimmvolk sagt erst 1971 mit 66% der Stimmen Ja zum eidgenössischen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Bis das kantonale Frauenstimmrecht in allen Ständen durchgesetzt war, dauerte es allerdings noch weitere 20 Jahre. Appenzell Innerrhoden führte das Frauenstimmrecht erst 1990 ein, nach einem Bundesgerichtsentscheid und gegen den Willen der Mehrheit der männlichen Stimmbürger.

Katharina Zenhäusern, die als erste Frau der Schweiz einen Stimmzettel in eine Urne legte, mit Elisabeth Kopp, der ersten Bundesrätin (1984–1989) und Ehrenbürgerin von Unterbäch.

Die Präsidentengattin Katharina Zenhäusern, die als erste Frau in der Schweiz einen Stimmzettel in die Urne legte, kommentierte noch kurz vor ihrem Tode im Jahre 2014 den beschwerlichen Weg zur Gleichstellung von Mann und Frau zutreffend: «Noch hat die Gleichberechtigung Nachholbedarf. Vor allem in der katholischen Kirche. Vielleicht sind ja die universellen Götter weiblich.»

Ja, was im Rütli der Schweizer als Symbol im Kampf für die politischen Rechte der Frau und die Gleichstellung von Mann und Frau seinen Anfang nahm, fand die Krönung erst im Jahre 1984 durch die Wahl von Elisabeth Kopp in den Bundesrat; im selben Jahr wurde die erste Bundesrätin der Schweiz Ehrenbürgerin von Unterbäch.

Ein Jahr später hielt Iris von Roten in Unterbäch die 1.-August-Rede und betonte: «Das Stimm- und Wahlrecht der Frauen und die erste Bundesrätin bedeuten nur: ein Anfang der Freiheit, kein Zenit, kein Höhepunkt der Freiheit. Und gerade was die Freiheit der Frauen betrifft, nur der Ausgangspunkt zur Erkämpfung der vollen Freiheit.» Selbst Unterbäch musste warten, bis auch in Unterbäch Frau Rosa Weissen-Zenhäusern (2009-2012) zur ersten Gemeindepräsidentin der fortschrittlichen Feriendestination gewählt wurde. In der aktuellen Amtsperiode amtiert wiederum eine Frau als Gemeindepräsidentin: Sarah Zenhäusern.

Eine hochpolitische Wanderung

Die Bemühungen für die Rechte der Frauen in allen gesellschaftspolitischen Belangen gehen weiter. In Unterbäch können inzwischen Frau und Mann einen «Frauen-Zitatenweg» begehen und an Tafeln Gedanken gescheiter Frauen aus aller Welt verinnerlichen. Was da Frauen aus Kultur, Literatur, Geschichte und Politik – wie etwa Mutter Teresa, Indira Gandhi, Simone de Beauvoir, Ingeborg Bachmann und andere mehr – zu sagen haben, ist wegweisend und hochpolitisch. Auch die Bundesrätinnen Ruth Dreifuss, Micheline Calmy-Rey, Doris Leuthard, Viola Amherd und viele andere Persönlichkeiten der Damenwelt meldeten sich auf dem «Rütli der Schweizer Frau» schon zu Frauenanliegen zu Wort und liessen sich von diesem Kraftort im Blickfeld des majestätischen Bietschorns, in dem für die Anliegen der Frauen wegweisende Spuren gelegt wurden, inspirieren.

Ja, in den letzten 65 Jahren hat sich bereits viel zugunsten der Rechte der Frauen verändert. Nach wie vor stehen wir vor der Herausforderung, dass eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie – für die Frauen – Pflicht wird. Dies ist und bleibt die Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Politik sowie Erwerbstätigkeit und Karriere. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen – trotz vieler positiver Aspekte spielte – in der Wirtschaft, in der Politik und der Wissenschaft ist noch immer zu niedrig.

Immerhin, erwähnen wir schon mal die Zahl der Frauen in den Eidgenössischen Kammern: Die Sitzpläne der beiden Ratskammern sprechen für sich: Der Frauenanteil im Parlament ist mit dem Beginn der 51. Legislatur sprunghaft angestiegen: 96 der 246 Ratssitze sind nun von Frauen besetzt. Im Jahr 1971, als das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, waren es gerade einmal 12.

Es bleibt also die die Hoffnung, dass die Frauen das «Laufgitter der Unfreiheit» unwiderruflich verlassen haben und endlich auf allen gesellschaftlichen Ebenen die uneingeschränkte Gleichstellung der Geschlechter Wirklichkeit wird.

Gemeindepräsident Paul Zenhäusern mit seiner Frau Katharina Zenhäusern-Zenhäusern und ihrer ältesten Tochter Germaine.  

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1 Kommentar

  1. Ein löbliches Andenken an diesen gesellschaftspolitischen Einzelfall.
    Der Kampf für die gleichen Rechte von Frauen und Männern dauert schon viel zu lang, vor allem in der Schweiz. Woher kommt diese Arroganz und Überheblichkeit der Männer, die 1971 das eidg. Stimm- und Wahlrecht der Frauen abgelehnt haben? Wer gibt Männern überhaupt das Recht, die Hälfte der Bevölkerung zu diskriminieren nur, weil sie Frauen sind? Das frage ich mich schon ein Frauenleben lang. Wie würden sich Männer fühlen, wenn es umgekehrt wäre: wenn sie die Unterdrückten, über Jahrhunderte ihrer freien Entfaltung Beraubten wären? Nicht vorstellbar? Ich bin überzeugt, dass Frauen nie in dem Ausmass Gewalt ausüben würden wie die Männer, auch wenn sie die Macht dazu hätten.
    Der verstorbene Liedermacher und Sänger Udo Jürgens hat seine eigene Meinung zu diesem Thema in einem Lied niedergeschrieben. Vielleicht hören sie einmal rein …
    https://www.youtube.com/watch?v=9-hl6xPv9-s

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