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Als Gutsverwalter in der Ukraine

Karin Huser erzählt in «Ostwärts, wo der Horizont so endlos ist» die Geschichte einer Zürcher Familie, die sich zur Zeit der Zaren in der Ostukraine niederlässt.

Schweizer Familien sind nicht nur nach Amerika ausgewandert, sondern auch ins Russische Reich, etwa in die Ukraine. Städte wie Charkiw oder Sumi haben heute wegen des Krieges traurige Bekanntheit erlangt. Dort, in der Nordostukraine, baut sich 1871 eine Schweizer Familie ein Leben auf, bis die Russische Revolution alles verändert.

Dank eines einzigartigen Fundes hat die Historikerin Karin Huser die Geschichte der Zürcher Familie von Schulthess Rechberg aus Tagebüchern, Lebenserinnerungen, Briefen und Fotografien aufzeichnen können. Durch die persönlichen Dokumente erleben wir hautnah den Alltag, die Anstrengungen und Schwierigkeiten, auch die Freuden der Familie im fernen Zarenreich und erhalten Einblick in die schweizerisch-ukrainische Migrationsgeschichte.

Auswandern in die Ostukraine

Einmal Landwirt zu werden, ist der Kindheitstraum von August von Schulthess Rechberg (1845–1918), Sohn eines Zürcher Bankiers. Nach dem Agronomiestudium in Zürich und im deutschen Halle sucht er sich in der Nordostukraine Arbeit, die Schweiz ist ihm zu eng. 1871 tritt er in Trostjanetz die Stelle als Obergutsverwalter auf dem Gut des deutschen Grossindustriellen Leopold König an. Das 25 000 Hektar grosse Anwesen umfasst eine Zuckerfabrik, eine Getreidemühle, eine Schnapsbrennerei sowie eine Parkettfabrik.

Hier findet August ein beinahe unerschöpfliches Betätigungsfeld und kann seine Begeisterung für die Landwirtschaft voll ausleben. Er ist innovativ, führt zahlreiche technische Neuerungen ein, entwickelt den Getreideanbau und experimentiert mit neuen Zuckerrübensorten. Von frühmorgens bis spätabends ist er mit dem Pferd unterwegs, um den weitläufigen Betrieb zu beaufsichtigen.

Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten. Die Zuchterfolge der Rüben und die Getreideernte hängen vom Wetter ab, die wechselnden Marktverhältnisse sind nicht voraussehbar, die Korruption, selbst unter deutschen und österreichischen Unterverwaltern und Fabrikleitern, läuft seiner zwinglianischen Ethik zuwider. Der Patron erwartet jedoch Gewinn, sonst droht die Entlassung; was dann trotz seinem grossen Engagement auch geschieht. Mehrmals muss August die Arbeitsstelle wechseln, bis er schliesslich vom Sohn des alten Patrons wieder auf das Gut in Trostjanetz gerufen wird.

Vom Einmannhaushalt zur Grossfamilie

August von Schulthess hat zwar seinen Traumjob gefunden, aber er fühlt sich einsam und wünscht sich eine Familie. Sein Vater geht in Zürich auf Brautschau und empfiehlt ihm Marie Hess. Sie aber kann sich das Leben weit weg von der Heimat nicht vorstellen. Doch Vater und Sohn geben nicht auf, schliesslich findet die Heirat am 2. Januar 1879 in Zürich statt. Die Kinder lassen nicht auf sich warten, acht kommen schliesslich in der Ukraine zur Welt, drei Buben und fünf Mädchen, wobei die älteste Tochter zwölfjährig stirbt.

Dank der Tagebücher und der reichen Korrespondenz zwischen den Familienmitgliedern in der Ukraine und der Schweiz erfahren wir viel über den Alltag, die grossen Feste – die Festmenus werden detailliert aufgezeichnet – auch über den manchmal schwierigen Umgang mit dem Dienstpersonal. Wir folgen der Entwicklung der heranwachsenden Kinder und Enkelkinder. Zur engeren Familie zählt auch die langjährige ostpreussische Köchin und Wirtschafterin Fräulein Julie Bönkost, von den Kindern liebevoll Lulu genannt, die bis zu ihrem Tod 1913 die gute Seele der Familie bleibt. Die Kindermädchen, die sogenannten Njanjas, wechseln häufiger, ebenso die Hauslehrerinnen, die aus der Schweiz rekrutiert werden, Russischlehrer kommen aus der Umgebung.

Die Kinder leben im Naturparadies, sie können reiten, sich austoben, Streiche spielen. Der Vater bringt ihnen das Schwimmen bei. Hauslehrer unterrichten sie, bis sie in Zürich die höhere Schule besuchen. Die Erinnerungen an diese unbeschwerte Kinder- und Jugendzeit hat ein Sohn aufgezeichnet und sie seinem Bruder anlässlich des 80. Geburtstags in einer Tischrede 1968 vorgetragen.

Über die Besuche der Verwandten aus Zürich lernen wir die Reiserouten und die Reiseumstände in die Ukraine kennen. Anfänglich reist August mit der Kutsche in die neue Heimat, später erleichtert die Eisenbahn das Reisen, doch die Strecke von der Bahnstation bis zum Gut muss mit der Kutsche zurückgelegt werden, bei Regen auf sumpfigen Naturstrassen. Auch innerhalb des weitläufigen Gutsbetriebs ist man auf Kutschen, Reitpferde und im Winter auf Schlitten angewiesen.

Die Ehefrau als Managerin

Die Briefe zwischen den Eheleuten eröffnen tiefere Einblicke ins Leben der Familie von Schulthess Rechberg. Von Anfang an zweifelt Marie, den Anforderungen eines so grossen Hausstandes in der Ukraine gewachsen zu sein. In der Realität meistert sie jedoch alles perfekt: Sie kümmert sich um die grosse Familie, die immer im Zentrum steht, Kinder- und Hausmädchen unterstützen sie; sie hat einen liebevollen, aber vielbeschäftigen und rastlosen Ehemann; sie kommt den repräsentativen Verpflichtungen nach und managt die zahlreichen Dienstboten – trotzdem lassen sie ihre Selbstzweifel nie ganz los. Sie wird depressiv und hält sich zeitweise in einer Privatklinik in der Schweiz auf.

Maries zwei unverheiratete Schwestern leben im Zürcher Elternhaus. Dieses heute abgerissene Haus an der Kreuzstrasse steht auch den Familienmitgliedern aus der Ukraine zur Verfügung, wenn sie sich in der Schweiz aufhalten. Während die Kinder in Zürich die Schule besuchen, wohnen sie hier bei ihren Tanten. Das Haus bleibt ein Anker für die Auslandschweizer.

Auf halbem Weg in die Schweiz

Nach der Februarrevolution 1917 erleidet August einen Schlaganfall und verliert seine scheinbar unerschöpfliche Körperkraft und Energie. Doch er harrt aus, obwohl er kein Verständnis für die Forderungen der Revolutionäre hat. Erst als die Situation nach der Oktoberrevolution hoffnungslos wird, entscheidet er sich im Frühjahr 1918 zur Rückkehr, zusammen mit seiner Frau Marie und der jüngsten Tochter.

August von Schulthess-Hess überlebt die beschwerliche Reise nach einem zweiten Schlaganfall nicht, er stirbt unterwegs in Wien am 18. September 1918. Marie kehrt mit ihrer Tochter ins Elternhaus zurück. August hat gut vorgesorgt und einen Teil seiner Ersparnisse in der Schweiz angelegt, so dass seine Ehefrau keinen Mangel leidet. Marie stirbt mit 95 Jahren an Weihnachten 1946 im Kreis ihrer kinderreichen Familie, die sich in der Schweiz ein Leben aufgebaut hat.

Titelbild: August von Schulthess mit Pferd und Wagen bei der Arbeit

Karin Huser, Ostwärts, wo der Horizont so endlos ist. Eine Schweizer Familie im Zarenreich. NZZ Libro, Basel 2022. ISBN 978-3-907291-89-4

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