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Empathie in fremden Schuhen

Mit einer Sammlung von Schuhen und Geschichten lädt das Berner Generationenhaus dazu ein, die Perspektive zu wechseln: «A Mile in My Shoes» ist ein interaktives Schuhgeschäft, in dem die Besuchenden in die Schuhe eines anderen Menschen schlüpfen und über Kopfhörer Empathie erleben.

Wie fühlt es sich an, im falschen Körper geboren zu sein? Unter Existenzängsten zu leiden? Oder wenn in der Pubertät die Gefühle verrückt spielen? Was macht ein unerfüllter Kinderwunsch mit einer Beziehung? Und wie verändert eine Reise den Blick auf die Heimat? Die Ausstellung «A Mile in My Shoes» im Berner Generationenhaus ist in Kooperation mit dem «Empathie Museum» entstanden. Dieses wurde von der Londoner Künstlerin Clare Patey ins Leben gerufen und erforscht seit 2015, wie unsere persönlichen Beziehungen durch Empathie gestärkt werden können.

Die Geschichten stammen aus Bern sowie der ganzen Welt und werden in Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch und Englisch erzählt. Die Schuhe, die angezogen werden dürfen, sind Originale und stammen von insgesamt vierzig Personen, die in der Ausstellung ihre Erlebnisse, Erfahrungen, ihre Biografie, ihr Leben teilen. Das Zuhören via Kopfhörer ermöglicht es den Besuchenden, in die Welt einer anderen Person einzutauchen. Rund zehn Minuten lauscht man sitzend, stehend oder bei einem Spaziergang durch die Gänge des Generationenhauses.

Die schwarzen Lederstiefel, Grösse 45, gehörten einem Seenotretter auf der Themse.

Die Fähigkeit zu fühlen, was andere Menschen fühlen, und sie dadurch besser zu verstehen, gilt als zentral für das gesellschaftliche Zusammenleben und unsere Beziehungen – gerade auch zwischen den Generationen. Wir leben in einem Zeitalter der Individualisierung und Selbstoptimierung, und die populären Versuche, gesünder, gelassener und glücklicher zu werden, richten die Empathie vor allem auf uns selbst. Wie gelingt der Balanceakt zwischen dem Blick nach innen und der Anteilnahme nach aussen? Wie weit ist Empathie lernbar? Und wo liegen die (persönlichen) Grenzen der Empathie? Die Ausstellung ist ein spannender Zugang in die Gefühls- und Erlebniswelt anderer Menschen.

Persönliche Erfahrung

Bei meinem Ausstellungsbesuch habe ich die Schuhe von drei verschiedenen Menschen ausgewählt und ihre Geschichten gehört. Die schwarzen Lederschuhe, die ich als erstes anzog, gehörten dem pensionierten Friedhofsberater Walter (64). Hunderte von Begräbnissen hat er in diesen Schuhen erlebt, über Leben, Sterben, Tod nachgedacht, mit Angehörigen gesprochen und Trost gespendet. Breit, weich und bequem fühlen sich seine Schuhe an. Frisch poliert mit intakten Schuhbändeln sehen sie wie neu aus, obwohl sie bestimmt jahrelang getragen wurden.

Birkenstock-Sandalen einer psychisch kranken Frau.

Das zweite Schuhpaar gehörte einer 34jährigen Frau namens Simone. Es sind ausgelatschte Birkenstock-Sandalen, denen man das Alter ansieht. Das korkige Fussbett ist fettig, in schlechtem Zustand, die Lederriemen wirken abgenutzt und teils beschädigt. Entsprechend dramatisch klingt Simones Geschichte. Mit zerbrechlicher Stimme beschreibt sie ihre Psychosen. In ihren Sandalen zu stehen und vom Leiden der Frau zu hören, ist eindrücklich, spannend, geht unter die Haut. Insgeheim hofft man, dass die Frau ihre Krisen überwunden hat und wieder Lebensqualität hat. Vermutlich trägt sie immer noch Sandalen, hoffentlich solche in einem besseren Zustand.

Plastik-Clogs, die ein Menschenleben retteten.

Gelbe «Zoggeli» haben zum Schluss meines Besuchs mein Interesse geweckt. Sie gehörten Brodle, einem jungen Filmemacher. Was er in den Freizeitschuhen erlebte, ist aussergewöhnlich: Die Plastik-«Zoggeli» retteten ihm das Leben, als er von einem Stromschlag getroffen wurde. Positiv, fast lustig, spricht er über die lebensbedrohliche Erfahrung. Dankbarkeit ist hörbar. Zum Glück war der junge Mann nicht barfuss unterwegs.

Die Geschichten, die Persönlichkeiten der Schuhbesitzer sind ebenso farbig wie abwechslungsreich: Max (7), ein Trans-Kind, heisst heute Mona und trägt rosa Stiefel. Die schwarzen Gummistiefel gehörten Pia (39), einer Bäuerin, die auf einem abgelegenen Hof lebt und neben der Arbeit ihren schizophrenen Mann betreut. Beige Halbschuhe der Grösse 38 gehörten Sylvie, einer Logopädin, die aufgrund einer unheilbaren Krankheit langsam erblindet. Nachdenklich, aber immer positiv, erzählt die kunstinteressierte Frau, wie sie heute die Welt anders wahrnimmt als damals, als sie noch im Vollbesitz ihres Augenlichts war.

Rosa Gummistiefel eines Trans-Kindes.

Weitere Schuhbesitzerinnen und -besitzer schildern dramatische Erlebnisse, die ihr Leben veränderten: Christine war mit dem Suizidversuch der eigenen Tochter konfrontiert. Heiko berichtet über den Verlust seiner Mutter in früher Kindheit. Nabawiah hat Kriegs- und Fluchterfahrung. Ravid musste den Suizid der eigenen Ehefrau verarbeiten. Roy kümmert sich um die Erstversorgung von Suizid-Opfern…. Sari arbeitete in schwarzen Lederstiefeln auf einem Rettungsboot auf der Themse. Wie viele Ertrinkende hat er in diesen Schuhen wohl aus dem kalten Fluss gezogen?

Zwischen Mitleid und Respekt

Allen Geschichten ist gemeinsam, dass sie beim Zuhörer, bei der Zuhörerin etwas auslösen: Durch den Kontakt mit den Originalschuhen und die mit nachgesprochener Stimme erzählten Erlebnisse ist man zutiefst betroffen. Man spürt Empathie, Sympathie, Mitleid, Respekt, Bewunderung. Man ist der entsprechenden Person nahe, fühlt sich vertraut. Die Menschen in Bern, in der Schweiz brauchen mehr Einfühlungsvermögen, findet die Ausstellungsmacherin Andrea Hipp: «Empathie ist zentral für alle unsere Beziehungen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.» Empathie erleben kann man lernen. Hierzu leistet die Ausstellung einen Beitrag.

Titelbild: Die Schuh-Ausstellung wird von Freiwilligen der Burgergemeinde Bern betreut. Fotos PS.

Die Ausstellung im Berner Generationenhaus ist noch bis zum 14. Mai 2023 zu sehen.

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