Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass die Kindheit eine lebendige Quelle unzähliger Erinnerungen und Erfahrungen bleibt. Je kürzer die Zeit im Alter erscheint, desto länger scheint mir in der Erinnerung die Kindheit gewesen zu sein. Sie ist weit weg und doch sehr nahe. Immer wieder fällt mir ein Erlebnis ein, das mich begeistert oder bedrängt hatte. Ich weiss, ich war ein Lausbub. Denke ich darüber nach, glaube ich, dieser lebe noch immer in mir, nur hat er sich geändert. Vielleicht ist er ein wenig reifer geworden, was nicht ausschliesst, dass er nicht noch immer Dummheiten begeht, die er sich nicht verzeihen kann.
Erlebnishungrig war ich und aktiv und zugleich fühlte ich mich einer angenehmen Passivität ausgeliefert. Musste ich nämlich Routinearbeiten erledigen, wie Heu wenden oder Mist zetten, hatte meine Phantasie freien Lauf. Da wurde etwa Schneewittchen zu einer Traumfreundin, die ich einmal finden würde. Aktivität und Passivität stritten miteinander und ich hoffte sehr oft, die letztere gewinne den Streit. Denn in dem, was sich im Hirn abspielte, war die Welt schöner als in den Augenblicken, wo ich jäten oder Holz spalten musste.
Als ich, etwas älter geworden, das Wort «gegenläufig» las, war es mir nur sprachlich neu, inhaltlich hatte ich die Gegenläufigkeit schon immer in mir gespürt. Aber erst später erkannte ich, wie sehr sie mein Denken und Handeln bestimmt hat: «Gibst Du nichts, erhältst Du nichts». Im Zeichen der Fische geboren, war die in mir herrschende Gegenläufigkeit wohl schon in den Sternen festgeschrieben, denn der eine der Fische schwimmt mit dem Flusswasser und der andere schwimmt dagegen. So konnte das Leben geschmeidig werden. Das war wohl die beste Voraussetzung für das spätere politische Wirken. Wenn also Heraklit sagt: «Alles fliesst!», so hiess das für mich nicht, ich solle mich treiben lassen.
Schon als Ministrant glaubte ich nicht einfach, was der Pfarrer sagte, denn als er verbot, Messwein zu trinken, konnte ich es nicht lassen, ihn zu probieren und war erstaunt, dass er süsslich schmeckte. Ich hatte Mühe zu glauben, dass sich der Messwein im Hochgebet des Pfarrers in das Blut Christi verwandeln soll. Mein Zweifel wuchs in der Weihnachtszeit, denn ich hörte in meinem Schlafzimmer, das über der schönen Stube lag, das Christkind herumgehen. Es legte Geschenke unter den geschmückten Baum, die dann nicht dem entsprachen, was ich auf dem Wunschzettel dem Christkind vors Fenster geschoben hatte.
Die philosophische Sternstunde meines Zweifels erlebte ich jeweils, wenn Vater am Familientisch spottete und meinte, der Pfarrer habe viel zu lange gepredigt. Er schimpfte, wenn der Pfarrer auf der Kanzel verbot, am Sonntag zu heuen. Und von denen da oben hielt er auch nicht viel und er sagte gerne, was von Bern kommt, ist abzulehnen. Das Leben allerdings bestätigte schon dem Buben, dass Vaters Meinung nicht immer richtig war. So blieb ich hin- und hergerissen und begann selber zu denken. Ein gesundes Misstrauen blieb, aber ich lernte und wusste, dass ich nicht alles in Frage stellen durfte, denn die Erde mit ihren guten Gaben hatte mich immer friedlich aufgenommen. Und so denke ich an Hölderlin: «Wie du anfingst, wirst du bleiben …»*
*Hölderlin: Hymne, Der Rhein
Jesses, beim Lesen Ihres Rückblicks in die Kindheit, da tauchen auch bei mir lebhafte Bilder auf. Ich war ein Stadtkrippenkind, bereits ab dem zweiten Lebensmonat bis zum Schulbeginn, die Mutter musste schliesslich den ganzen Tag arbeiten. Sozialisiert unter lauter Kindern, betreut von ledigen Frauen in Schwesterntracht, die die körperliche Züchtigung noch anwandten. Zu Hause dann Mittelpunkt einer gerechten, jedoch strengen Mutter, mit mir bis heute unbegreiflichem Sinn für alles Schöne. Bei dieser Herkunft ist die «Gegenläufigkeit» auch bei mir Programm, bis heute.
«Wie du anfingst, wirst du bleiben..» von Hölderlin, stimmt für mich insofern, als mein Kampf gegen Ungerechtigkeit, gepaart mit dem Sinn für Ästhetik, geblieben ist. Übrigens findet man das Gedicht «Der Rhein» mit allen 221! Versen, samt Erläuterungen, auf Wikipedia. Ich habe mich durchgekämpft, der Vers 200 wäre für Ihre Kolumne ebenfalls passend.:
«Kann aber ein Mensch auch
Im Gedächtnis doch das Beste behalten,
Und dann erlebt er das Höchste.
Nur hat ein jeder sein Maas.
Denn schwer ist zu tragen
Das Unglück, aber schwerer das Glück»