Ich schaue durch das Fenster des Fernsehers in die Welt und lese, weil ich gerade ein wenig weihnachts- und neujahrsfaul bin, die Zeitungen recht flüchtig. Die Schlagzeilen sind nicht ermunternd. Sie schleichen wie streunende Katzen herum.
Ein Freund behauptete, die Klimakatastrophe sei unabwendbar. Die Sonne werde die Welt verbrennen. Die Menschheit befände sich bereits in einem Endkampf. Er nannte die Kriege, die politischen Streitigkeiten und den Aufstand der Viren. Wer so denke, erwiderte ich, habe die Finger schon verbrannt. Sein Leben könne nicht gelingen, wenn er die Arme hängen lasse? Wir stritten nicht, wir diskutierten. Es mag sein, dass ich nach dem Gespräch etwas pessimistischer gestimmt bin und er etwas optimistischer.
Als er gegangen war, ging der innere Dialog mit ihm weiter. Es wurde recht turbulent in meinem Kopf. Ich dachte an die Kriege, das Wüten der Taliban in Afghanistan, an die Mullahs, die die Weigerung, das Kopftuch zu tragen, als Sünde gegen Gott verurteilten. Von überall stürmten schlechte Nachrichten auf mich ein. Die Republikaner stritten sich, die sozialen Verteilkämpfe trieben Menschen auf die Strasse, Silvester wurde in Berlin zu einem Horror, China wechselte seine Viren-Politik radikal. Das Volk solle durchseucht werden. Millionen von Toten wurden in Kauf genommen. Die Gletscher schmelzen. Mitten im Winter ist Sommer, während in Amerika die Menschen gegen kaum gemessene Kälte kämpfen. So ging es weiter über das Artensterben, zum Verlust der Biodiversität und zur Vergiftung des Bodens und der Seen.
Hatte mein Freund vielleicht doch Recht? Mit Hölderlins Hoffnung: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch» hatte ich kein überzeugendes Argument. Das Rettende würde sich nicht einfach von selbst ergeben. Es müsste von jedem Einzelnen getragen sein. Dafür müssten jeder und jede die Grundhaltung ändern. Diese wiederum wäre einfach zu erreichen, wenn man sich von seinem Ich ein wenig distanzieren und sagen würde: «Es ist so, es könnte auch anders sein». Das «Es ist so» ist die Antwort des Ichs und jenes «Es könnte auch anders sein» öffnet es für Fragen. Schon wäre jeder auf dem Weg des Verstehens. Das bedeutet nicht, dass alle einer Meinung sein müssten. Das hiesse fürs Erste nur, man rede miteinander und prüfe die gegenseitigen Ansichten und einige sich, dass das bessere Argument obsiege.
Mit diesen Gedanken ging ich hinaus an die frische Luft, setzte mich auf eine Bank an die Sonne. Sie wärmte und hatte bis hoch auf die Berge den Schnee weggeräumt. Ich dachte an die Tage vor Weihnachten, als ich noch ein wenig durch den Schnee watete und glitzernden Sterne betrachtete. Kein Stern ist identisch mit dem anderen, aber zusammen ergeben sie eine weisse Decke. War es nicht ähnlich mit der Wahrheit? Keine Meinung ist gleich einer anderen. Und doch gibt es nur eine Wahrheit. Einigt man sich nach vielen Fragen in der Sache, zerstieben die vielen Meinungen und die Wahrheit erscheint in hellem Licht. Selbst, wenn dies heute bestritten wird, aber es gibt nach dem Satz der Identität* von einer Sache nicht zwei Wahrheiten. Schade, dass wir es nicht mehr der Mühe für wert finden, nach der Wahrheit zu fragen und um sie zu kämpfen.
*Einfach gesagt: eine Sache kann nicht zugleich eine andere sein
Ich muss Ihnen widersprechen. Nach meinem Verständnis ist DIE Wahrheit über alles gesehen, nicht erreichbar, immer temporär und auf ein einziges Urteil bezogen. Sie ist z.B. Bestandteil der Philosophie, auf der Suche nach der Deutung der Wahrheit, der Rechtsprechung, was wahr und was falsch ist. Sie ist ein momentanes Ergebnis der Wissenschaft nach einer neuen Erkenntnis. Jede Religion und jede Ideologie kennt nur IHRE Wahrheit.
Auch unsere Demokratie hat die Wahrheit nicht gepachtet, sie ist veränderbar, und das ist nötig, weil die Zeiten sich ändern, weil die Wahrheit eine neue Identität durch den aktuellen Blick darauf erhält. Eine Einigung verschiedener Meinungen ist nicht der Wahrheit verpflichtet, sie ist ein notwendiger Kompromiss, damit es weiter gehen kann.
Ich vermute, Sie meinen mit Wahrheit eigentlich die Evidenz, die Offensichtlichkeit, die unbezweifelbare, ohne Beweis logische Einsicht und somit «das ewig Wahre». Ich hatte 2022 einen Spruch an meinem Zettelbrett, irgendwo aufgeschnappt, notiert und an die Wand gepinnt. Er lautet: «Das Glück ist nur die Liebe, und die Liebe ist das Glück». Für mich ist das die Wahrheit, eine von vielen. Ob wir uns noch verstehen, die Frage Ihres Titels, müssen Sie entscheiden.