Bühnen Bern zeigen Henrik Ibsens «Volksfeind» in einer erschreckend aktuellen Version. Leitmotive sind Wahrheit und Freiheit sowie Macht und Recht. Ein Lehrstück über Demokratie, Korruption und Scheinheiligkeit.
Das Schauspiel «Ein Volksfeind» ist ein gesellschaftskritisches Drama des norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen aus dem Jahr 1882. Der Autor beanstandet darin, dass die öffentliche Meinung zu oft als Wahrheit akzeptiert wird und dass Macht sich regelmässig über das Recht hinwegsetzt. Ibsens letztes Gesellschaftsdrama hatte trotz der unbequemen Thesen beim Publikum sowie bei den Theaterkritikern grossen Erfolg, wird auch heute noch häufig aufgeführt und als Schullektüre eingesetzt.
Die Berner Inszenierung stammt von der deutschen Regisseurin Selen Kara, die ab Sommer 2023 die Co-Intendanz des Schauspiel Essen übernehmen wird. Auf der Bühne spielen – spürbar lustbetont – die Mitglieder des Berner Schauspielensembles: Kilian Land, Claudius Körber, Viet Anh Alexander Tran, Genet Zegay, Linus Schütz und Jan Maak. Das Bühnenbild stammt von Lydia Merkel, die Kostüme von Anna Maria Schories, die Musik von Vera Mohrs.
Umstrittenes Kurbad
Schauplatz ist eine Kleinstadt in Norwegen, in der die Welt (noch) in Ordnung ist. Die Wirtschaft boomt, die Armut geht zurück, die Menschen leben friedlich zusammen und der Tourismus floriert. All das verdankt die Stadt ihrer Lebensquelle, dem neuen Kurbad. Geleitet wird das Bad von Kurarzt Dr. Thomas Stockmann, einem ehrlichen, wahrheitsliebenden, aufrichtigen Mediziner, dem das Wohl von Patienten, Touristen und Stadtbevölkerung am Herzen liegt. Er ist der jüngere Bruder des amtierenden Stadtpräsidenten Peter Stockmann, dem Steuereinnahmen, Profit, Wohlstand und Prestige wichtiger sind als Gesundheit, Ehrlichkeit und Wahrheit.
Das Duell der Brüder: Der Stadtpräsident hinten, der Kurarzt vorne.
Der Konflikt zwischen den beiden Brüdern, zwischen Integrität und Korruption, ist vorprogrammiert: Durch eigene Studien findet der Arzt heraus, dass das Wasser des Kurbads verseucht ist. Stockmann will mit einem Gutachten an die Öffentlichkeit gehen und anschliessend die verseuchten Leitungen sanieren. Doch seine Enthüllung hätte katastrophale Auswirkungen auf die Finanzen und das Image der Stadt. Der Verleger der Lokalzeitung, der Chefredaktor und ein Journalist erfahren vom Gutachten und werden in der Folge zwischen den beiden verkrachten Brüdern hin- und hergerissen. Die «Bad News» publizieren, herunterspielen? Oder die Ergebnisse der Studie verschweigen?
Mehrheitsmeinung: Feind von Wahrheit und Freiheit
Hinter der Kulisse der bislang idyllischen Kleinstadt macht sich – musikalisch dezent untermalt – ein toxisches Gemisch aus Vetternwirtschaft und schonungslosen Kapitalinteressen breit. Gekämpft wird mit allen Mitteln. Die Honoratioren der Stadt tagen in der Glasbox hinter geschlossenen Rollos und erklären den Badearzt zum «Feind aller», zum «Volksfeind». Zunehmend isoliert, kommt Dr. Stockmann zum Schluss, dass die gesamte Gesellschaft vergiftet ist, da sie «auf dem Boden der Lüge ruht». Ins Extreme getrieben, behauptet er sogar, die «liberale Mehrheit der Bevölkerung» sei der «gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit». Die emotionale Radikalisierung des Mediziners ist beeindruckend.
Die Wertpapiere des Bades werden an die Demokratiefeinde verfüttert, der Badearzt entlassen.
«Ein Volksfeind» ist das Drama eines tapferen Mannes, der versucht, das Richtige im Namen der Wahrheit, aber in einem Umfeld extremer sozialer Intoleranz zu tun. Alle Figuren weisen Brüche und Widersprüche auf, sodass die Grenzen zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge am Schluss verschwimmen. Dr. Tomas Stockmann redet und enthüllt, Peter Stockmann schweigt und verhüllt. Einen Sieg können beide letztlich nicht feiern: Der Kurarzt wird entlassen, der Stadtpräsident erlebt, wie die Aktienkurse des Bades abstürzen und die Wertpapiere an die Tiere im Zoo (notabene an die Honoratioren in Tiermasken) verfüttert werden.
Die Tochter des Stadtpräsidenten Petra (vorne) zeigt die Konsequenzen des Konflikts auf.
Durch den Theaterabend führt – als Erzählerin und Lehrerin – die Tochter des Stadtpräsidenten: Petra stellt dem Publikum in blau-grünem Korsett und mit weissblonder Perücke die ausschliesslich grauhaarigen Amtsträger ihres Heimatortes vor, zeigt die Pole und Konsequenzen des Konflikts um Wahrheit sowie Macht auf und beklagt, Schulkinder lernten nicht mehr, Fragen zu stellen: Dadurch komme ihnen die Neugier abhanden. Ibsens Thesen werden um das Thema «Schule» erweitert. Entsprechend der Stimmung sind Bühnenbild und Kostüme grau-blau, kalt und abweisend. Rote, orange, gelbe oder braune Töne fehlen. Petras Interventionen und der Schluss des Stücks stammen nicht von Ibsen, sondern vom aktuellen Hausautor von Bühnen Bern, Dmitrij Gawrisch. Er hat Ibsens Klassiker durch originelle Passagen und Einfälle ergänzt und aktualisiert.
Trump, Corona und der Klimawandel
«Fakenews»: Der Verleger (hinten) und seine Journalisten haben Macht, aber nicht unbedingt recht.
Als Publikum muss man nicht lange nach Anwendungsfällen des über 140-jährigen Dramas im 21. Jahrhundert nachdenken: Seit der Präsidentschaft Trump kennt jedes Kind die Problematik von «Fakenews». Um Wahrheit oder Lüge wurde und wird rund um das Corona-Virus bitter gerungen. Ist der Klimawandel eine Bedrohung für die Menschheit oder nur ein vorübergehendes Phänomen, wie es seit Jahrtausenden vorkommt? Promovierte Forschende und selbsternannte Pseudo-Wissenschaftler kämpfen an Stammtischen und in den Medien um die Meinung der Bevölkerung und – in einer direkten Demokratie – letztendlich um Massnahmen gegen das Übel. Klar ist, dass nicht zwingend derjenige recht hat, der am lautesten schreit.
Inklusionsangebote von Bühnen Bern
Bühnen Bern bieten den «Volksfeind», wie andere Produktionen auch, mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten an. Bei ausgewählten Vorstellungen werden Gebärdensprecherinnen eingesetzt. Alle Opernvorstellungen werden mit deutschen Übertiteln gezeigt. In den Spielstätten Stadttheater, Casino Bern und Vidmarhallen ist ein hindernisfreier Zugang gewährleistet. Assistenzpersonen haben kostenlosen Eintritt, und Führhunde sind in allen Spielstätten willkommen. Bei «Relaxed Performances» handelt es sich um ein Inklusionsangebot von Bühnen Bern mit Produktionen, bei denen Kinder mit Beeinträchtigungen bzw. Kinder, denen es schwerfällt, für längere Zeit still zu sitzen, die Möglichkeit haben, sich frei im Raum zu bewegen.
Titelbild: Die Protagonisten der Berner Aufführung: ein toxisches Gemisch aus Vetternwirtschaft und schonungslosen Kapitalinteressen. Alle Fotos: Yoshiko Kusano
Weitere Vorstellungen: 28.2. / 1.4. / 15.4. / 26.5. / 26.6.2023
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