Vier Personen sprechen, eine fünfte hört zu: Regisseur Christopher Rüping inszeniert am Schauspielhaus Zürich Sarah Kanes 1998 uraufgeführtes Stück «Gier» mit einem fulminanten Ende.
Mit 28 Jahren nahm sich die britische Theaterautorin Sarah Kane mit schweren Depressionen im Februar 1999 das Leben. Sie veröffentlichte fünf Theatertexte, die aufgrund ihrer poetischen und anti-naturalistischen Machart heute für viele als Zäsur in der britischen Theatergeschichte gelten. Mit ihren formal und inhaltlich aussergewöhnlichen Texten hat sie sich selbst ein ebenso fragiles wie widerstandsfähiges Denkmal gesetzt.
In ihrem vierten Theaterstück «Gier» sind es vier Figuren, nur noch mit den Buchstaben A, B, C und M bezeichnet, die allen Bezug verloren haben – sie erinnern sich und vermögen es doch nicht, sie wollen vergessen und können auch das nicht. Die Gewalt-Geschichte liegt hinter ihnen, jetzt sind sie im Fast-Dunkel ihrer Zeit und ihrer Biografien verloren. Nur ein letzter Zusammenhalt besteht noch: Er liegt in den Worten, die sie vor sich hin sprechen und die, zusammen genommen, einen Text-Zusammenhang ergeben.
Eine fünfte Person hört zu
Regisseur Christopher Rüping erweitert in seiner Inszenierung die vier Figuren mit einer fünften Person: Auf einer riesigen Leinwand ist fast den ganzen Abend hindurch das Gesicht der Schauspielerin Wiebke Mollenhauer zu sehen, die den Textverlauf wortlos mit wechselnden Gesichtsausdrücken begleitet. Auf einem Stuhl sitzend und von Webcams eingefangen, verfolgt sie meist reglos die vier Stimmen, nur mit ihrer Mimik verrät sie ihre Gefühle, zeigt Wut, Trauer, Schmerz, Angst, aber auch Verwunderung und Erheiterung, lässt sich schminken, kullern Tränen über ihr Gesicht. Doch dann bricht es aus ihr heraus: Mit voller Kehle brüllt sie den Song «Toxic» von Britney Spears hinaus.
Die vier Stimmen A, B, C und M (von links): Sasha Melroch, Steven Sowah, Maja Beckmann, Benjamin Lillie.
Mit von der Partie ist eine Musikgruppe, bestehend aus einem Streichertrio (Jonathan Heck, Coen Strouken, Polina Niederhäuser) und einem Keyboard-Musiker (Christoph Hart) , die den schier unendlich wirkenden Redefluss der vier Figuren musikalisch mit teils verfremdeten Songs mal heftig, mal sanft untermalt. Anfänglich agieren die vier in pastellfarbene Gewänder gekleideten Figuren fast unmerklich von der ersten Zuschauerreihe aus, dann tragen sie Kanes Gedankensplittertext äusserst vielseitig und spielerisch auf der Bühne vor, bilden ständig neue Formationen, flüstern, beschwören, drohen, betteln bis zur Nacktheit um gelingende Liebe. Bis zum Wutausbruch ist alles dabei. Die vier Akteure (Benjamin Lillie, Maja Beckmann, Sasha Melroch, Steven Sowah) meistern das Wellental der Gefühle mit Bravour, machen unterschiedliche Charaktere erkennbar.
Schlussspurt mit Kapriolen
In Kanes Text geht es vorab um das von Macht und Abhängigkeit zerstörte Verlangen nach Liebe und Nähe. Geboten werden Versatzstücke, die wortgewaltig um hochfliegende romantische Sehnsüchte und abgrundtiefe Verzweiflung kreisen, an gewalttätige Szenen erinnern, so an jene, wie ein Grossvater sich an seinem Enkelkind vergeht. Regisseur Rüping lässt die vier Figuren nicht nur Kanes Text sprechen, sondern treibt sie gegen Schluss zu theatralischen Kapriolen mit Pappmasken an. Da wird es auch der zuhörenden Figur zu bunt. Wiebke Mollenhauer verlässt fluchtartig die Bühne. Live per Video auf der grossen Leinwand mitzuverfolgen geht sie förmlich im Zürichsee baden, dreht ein paar Runden im eiskalten Wasser und freut sich anschliessend frierend am Ufer am tosenden Schlussapplaus des vorab jugendlichen Premierenpublikums.
Wut, Trauer, Schmerz, Angst: Wiebke Mollenhauers Gesicht auf der Grossleinwand.
Das überraschende Ende im kalten Wasser sorgte am Premierenabend für einigen Gesprächsstoff. Was will der Regisseur damit sagen? Dass der quälende Spuk vorbei ist und alle wortreich zelebrierten Dämonen gebannt sind? Die knapp zweistündige Aufführung auf der Pfauenbühne besticht vorab durch Wiebke Mollenhauers Auftritt. Ihr Mimikspiel auf grosser Leinwand ist höchst beeindruckend und zeugt von grosser Schauspielkunst.
Titelbild: Benjamin Lillie vor dem Objekt der Begierde. Fotos: Orpheos Emirzos
Weitere Spieldaten: 6., 14., 19., 22., 24., 26. März, 5., 6., 14., 29. April