Auf der Flucht vor den Nazis strandete der berühmte Tenor Joseph Schmidt 1942 krank, erschöpft, als einer unter Tausenden von Flüchtlingen an der Schweizer Grenze. Mit einer Bühnenfassung nach dem Buch von Lukas Hartmann gedachte das «Theater an der Effingerstrasse» einen Monat lang der tragischen Geschichte.
Den Gassenhauer «Ein Lied geht um die Welt» kennt jedes Kind. Doch der Tenor Joseph Schmidt konnte mehr: Jahrelang füllte der 1904 geborene Sohn orthodoxer Juden aus Czernowitz (Rumänien) Konzertsäle in Europa und in den USA, wurde auf Händen getragen und vor allem von Frauen verehrt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten leitete den steilen Absturz des talentierten Sängers ein. Die Nazis verfolgten den berühmten Juden durch ganz Europa. 1942 flüchtete er mit Hilfe eines Schleppers in die Schweiz, in das Land seiner letzten Hoffnung, weil er in Zürich einen Bekannten kannte, der ihm helfen würde.
Links: Der Sänger auf der Bühne (Aaron Frederik Defant). Rechts: Historisches Foto von Joseph Schmidt.
Doch der Traum vom gelobten Land erfüllte sich nicht: Eine aggressive Kehlkopfentzündung sowie Herzprobleme quälten den Flüchtling. Die wenigen Menschen, die ihn unterstützten, die meisten selber Juden, schafften es nicht, erfolgreich gegen eidgenössische Pflichterfüllung und unverhohlenen Antisemitismus anzukämpfen. Joseph Schmidt starb, gebrochen, desillusioniert und allein, im Internierungslager Gierenbad, Kanton Zürich, obwohl er nichts lieber getan hätte, als dem Gastland seine wunderbare Stimme als Gegenleistung anzubieten. Aber amtliches Misstrauen und Vorhaltungen der helvetischen Bürokraten, die Krankheitssymptome seien blosses Simulieren, brachten den Mann schliesslich 1942 im Alter von nur 38 Jahren ins Grab.
Der erfahrene Regisseur Markus Keller bringt mit «Der Sänger» seine eigene Theaterfassung des gleichnamigen Romans von Lukas Hartmann aus dem Jahr 2019 auf die Bühne. An der Premiere vor drei Wochen sassen der Autor und dessen Gattin, Alt-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, im Publikum. Hartmann ist bekannt für seine Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, die er aber mit Fiktionen ergänzt. Im «Sänger» ging es dem Schriftsteller offensichtlich nicht in erster Linie um die Biografie eines Gestrandeten, sondern um die politische Haltung der Schweiz, den Flüchtlingen gegenüber.
Der Fluchthelfer und der Sänger.
Als die Schweiz im August 1942 ihre Grenzen für die flüchtenden Juden schloss, begründete man dies mit der Angst vor «Überfremdung», obwohl bekannt war, was mit abgewiesenen Juden passierte. Man knickte im vorauseilenden Gehorsam ein, weil man es auf keinen Fall mit dem mächtigen Grossdeutschland verspielen wollte.
Heute sind «Überfremdungsängste» so aktuell wie damals, obwohl man weiss, wie es den Menschen in Afghanistan, im Iran und der Ukraine geht. In einem Wahljahr wird die Flüchtlingspolitik ohnehin zu einem wichtigen Thema.
Der Sänger und der Schriftsteller Manès Sperber (Hannes Perkmann, rechts) im Lager.
Hartmann und Keller zeichnen ein differenziertes Bild der damaligen Zeit. Buch und Theaterstück geben die harte Haltung der Behörden wieder. Obwohl Teile der Bevölkerung bereit waren, «zusammenzurücken», wie sich ein verzweifelter Pfarrer ausdrückt, wies man Tausende von Menschen an den Grenzen ab und steckte Eingereiste unter strengen Bedingungen in Aufnahmelager. Markus Kellers Bühnenadaptation bleibt klassisch und eng an Hartmanns Text angelehnt, vertraut auf dessen Sprache und setzt Regieeinfälle mit grosser Sorgfalt ein.
Schmidts Freundin Selma Wolkenheim (Friederike Pöschel) fürchtet um das Leben des Sängers.
Das Ensemble lässt das Publikum in die Jahre des Zweiten Weltkriegs eintauchen. Von der Decke hängen Koffer und Gepäckstücke aus jener Zeit (Bühne Peter Aeschbacher). Für die Kostüme (Sarah Bachmann) wurden sogar Originaluniformen des Schweizer Militärs ausgeliehen. Während knapp zwei Stunden erlebt man den physischen und psychischen Niedergang des Sängers Joseph Schmidt (Aaron Frederik Defant). Dessen Stimme wird im Lauf des Abends immer leiser und heiserer. Verzweifelt und ohnmächtig versucht Schmidts Freundin Selma Wolkenheim (Friederike Pöschel), ihrem Geliebten zu helfen. Sie überzeugt durch Emotion, Präzision sowie eine klare Sprache. Weitere Figuren repräsentieren die Justiz, die Armee, die Menschen im Lager.
Die Staatsmacht in der Person des Lageroffiziers Oberleutnant Rüegg (Stefan Hugi).
Das Stück ist, genau wie das Buch auch, als Mahnruf zu verstehen. Es blickt in eine Vergangenheit, die uns durch Schindlers Liste, den Fall Grüninger und den Bergier-Bericht bestens bekannt ist: Gegen aussen gab man sich in der dunklen Zeit des Zweiten Weltkriegs barmherzig, in Politik und Praxis blieben die Behörden knallhart. «Die Schweizer sind bekannt für ihre Humanität», konstatiert Sänger Schmidt auf der Bühne treuherzig. «Gut siehst du aus, respektabel», sagt seine Freundin und fährt fort: «So lassen dich die Schweizer über die Grenze.» Doch die Hoffnung auf Rettung erweist sich als Trugschluss.
An der Hauswand des ehemaligen Gasthauses Waldegg in Girenbad hängt heute eine Gedenktafel, auf der steht: «In diesem Haus starb am 16. November 1942, achtunddreissig Jahre alt, einer der berühmtesten und beglückendsten Sänger der Welt – Joseph Schmidt – als Flüchtling und Opfer einer gnadenlosen Zeit. Dankbare Freunde». Nun hat auch das Berner «Theater an der Effingerstrasse» dem Künstler ein Denkmal gesetzt.
Titelbild: Kontroverse Diskussionen auch im Lageralltag. Auf dem Bett sitzend: der Sänger. Alle Fotos: Severin Nowacki
Aufführungen noch 21.4 und 22.4.2023
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